Morgens 5:30 – die Toröffnung am Naiku

Wir machten uns am kommenden Morgen schon um 4:30 auf zur Toröffnungszeremonie am Naiku. Im Schnellschritt gings durch die noch geschlossene, verschlafene Ladenstrasse Oharai-machi und Okage-Yokocho mit ihren imposanten, Verkaufshäusern. Am Ende der Oharai-machi Strasse, vor dem Besuch des Allerheiligsten und noch vor der Uji-Brücke reinigen wir uns die Hände mit der Schöpfkelle und spülen den Mund aus. Der Zugang zum Naiku führt nur über diese Brücke über den heiligen Izusu Fluss und ist Ausdruck des Übergangs. Hier lässt der Pilger oder Besucher die 108 menschlichen Begierden hinter sich zurück bevor er zum eigentlichen Heiligtum durch die ehrwürdigen Zedernwälder gelangt. Wir sind erstaunt, es sind nur wenige Menschen unterwegs.

Angekommen am Naiku um kurz nach 5:00 warten wir an der Treppe vor dem Aufgang zum ersten Eingangstor. Auch hier wieder die Sicht auf die eigentlichen Shrine versperrenden Zedernholzwände. Wir sind alleine, es ist noch nicht ganz hell, der Morgen bricht sich soeben seinen erhellenden Weg durch die hohen Baumwipfel. Neben der Treppe im Wald treibt sich ein Dachs herum, er nimmt von uns keine Notiz. In diesem Moment fühlen wir uns eins zu sein mit dem leisen Rauschen der Zedernbäume am Ise-jingu, dem ungestörten Dachs, den Vögeln, die ihr erstes Morgengezwitscher beginnen und unserer Erwartung, dass das Tor geöffnet wird. Eine feierliche, erwartungsvolle Stimmung. map_naiku_en

Gegen 5:30 erscheint ein in die weiße Shinto Robe, mit schwarzen Shinto Holzschuhen gekleideter Priester. Der klackende, schlurfende Klang der Holzschuhe auf dem groben Kies ist schon ein Teil des morgendlichen Rituals. Mit oft geübten Griffen beginnt er das Tor zu öffnen. Erst die linke Seite. Lautes Knirschen, Knarzen vom Drehen des schweren Tores von Holz auf Holz durchdringt die eigentümliche Stille. Die rechte Seite. Wieder das laute Knirschen und Knarzen als sich die schwere Holztüre in den Angeln dreht und über den Holzbalken schleift, der die Außen- und Innenwelt trennt. Dann befestigt er zunächst links, dann rechts das weisse Tuch mit einer Stange. Die beiden Seiten des Vorhangs bauchen sich jetzt mit dem einsetzenden leichten Windhauch auf. Wir sind soeben Zeugen einer heiligen Handlung geworden. Das Knirschen und Knarzen des Tores und das Schlurfen und Klacken der Holzschuhe des Priesters bleiben uns noch lange im Ohr. Unser intensives Hören und Sehen gaben uns ein Gefühl der Einheit mit diesem kurzen Moment. Das war die Belohnung für unser frühes Aufstehen.

Wir besuchen noch weitere, viel kleinere Shrine, die versteckt hinter Hügeln und Treppenaufgängen im weit verzweigten Wald liegen. Den Shrine für Tsukiyomi-no-Miya, den Gott des Mondes, Kazahi-no-Miya, den Gott des Windes…. Immer wiederkehrend, der neu erbaute Shrine, daneben das Feld des bishrigen Shrines, in 18 Jahren wird es dann wieder umgekehrt sein.

Die kleineren Shrine sind nicht so abgeschrimt wie der Naiku mit der Sonnengöttin Amaterasu. Hier können wir näher treten und vor der Türe des Shrines innehalten. Demut und Dankbarkeit, ohne tiefes Überdenken, was Demut bedeutet und für was wir in diesem Moment dankbar sind, nimmt Gestalt an, ergreift uns. Natürliches Verständnis für die 8 Millionen Shinto Götter der Japaner. Die 8 für die Unendlichkeit steht für die unendliche Anzahl der Götter, denen nach Shinto Dankbarkeit gezollt wird. Sie sollen nicht um Hilfe zur Erfüllung von Wünschen herangezogen werden, hier geht es um die Bezeugung von Dankbarkeit..

Am Ufer des ruhig dahin fliessenden Izusu Flusses versuchen wir an einer kleinen, nicht von Bäumen umstanden Bucht, unsere ungemein friedlichen Gefühle auszutauschen.  Gefühle für das Schöne der Natur, für die ohne jeden überflüssigen Schnörkel an die Stimmung angepassten Shrine-Bauten. Das zusammengenommen erzeugt unsere innere Ruhe. Vielleicht versuchen wir in unseren Gesprächen und dem Austausch über die jeweiligen Empfindungen, diese zu konservieren, festzuhalten, ja nicht zu verlieren.
Ob uns das gelingen wird?

Ein mitreissender Ort, besonders an diesem Morgen, wo nicht viele Menschen im Ise-jingu unterwegs sind. Allerdings. Die Läden der Oharai – und Okage-Strasse sind auf unserem Rückweg jetzt geöffnet. Softeis, Buden mit Andenken, exklusive Läden mit Handwerk aus der Region, Cafes, sogar eine Art Kino und plötzlich viele Menschen Sie verwirren uns in unserer eben noch erfahrenen inneren, auch körperlich gefühlten Ruhe. Diese Straße heißt übrigens Okage, was übersetzt heisst, „Strasse der Dankbarkeit“. In Japan gehören Lärm und Stille, Geschäft und Shrine oder Tempel zusammen. Man muss nur lernen diese Gegensätzlichkeit als Einheit zu akzeptieren, damit umzugehen und sich nicht verwirren zu lassen.