Tag Zwei in Hagi

Heute fahren wir etwa 10 Minuten von unserem Haus zur alten Schule, die als Hagi Clan School Merinkan, bereits 1718 mit dem Ziel gegründet wurde, Angehörige des Mori Clans zu unterrichten. In der wechselvollen japanischen Geschichte diente diese Anlage ab Ende der feudalen Herrschaft (Meiji Restoration 1863/64) bis ins Jahr 2014 als Volksschule.

Da wo früher Schwertkampf und Speerwerfen trainiert wurde ist heute in zwei der drei langgetreckten, zweigeschossigen Holzbauten ein Museum untergebracht. Es wird über Wissenschaft und Technologie in den letzten Jahren vor der Restoration informiert, die später bei der Ablösung der feudalen Herrschaft und Modernisierung Japans eine maßgebliche Rolle gespielt haben.

Jedes Klassenzimmer erfüllt dazu seinen Zweck. So geht es um Beispiele der frühen Industrialisierung Japans. Industriegeschichte zum Anfassen, wie: ‚Japan and the World in den Mid-19th Century‘ oder ‚Hagi as a Base for Industrialization by Trial-and-Error‘. Eine Supereinrichtung für Familien mit Kindern, die anhand der Exponate in die Frühzeit der Industrialisierung von freiwilligen Helfern eingewiesen werden. Auf einer anderen Etage wird in mehreren Räumen eine umfangreiche japanische Waffensammlung gezeigt, von den unterschiedlichsten Samurai Helmen über die ersten in Japan gefertigten Gewehre bis hin zu Handfeuerwaffen und Kanonen – Made in Japan oder besser gesagt Made in Hagi.

Wir entdecken das in Japan bekannte Bild von der feierlichen Zeremonie in Yokohama zur Öffnung Japans durch den amerikanischen Admiral Perry mit seiner Flotte im Hintergrund im Jahr 1854. Für uns ist es ein Ausflug in die Zeit, in der ‚unsere Nachbarn‘ aus den Samurai Häusern im Joka Machi Viertel hier und in Japan gewirkt haben.

Die Meirinkan Schule ist sowohl innen als auch außen fantastisch restauriert. Die drei Gebäudeteile sind mit verglasten Gängen verbunden, die einen Blick auf gepflegte Gartenanlagen zulassen. Als wir die Schule verlassen, entdecken wir noch ein altes, steingefastes Schwimmbecken, in dem die früheren Kadetten nach ihren Kampfübungen mit ihren Pferden Schwimmübungen gemacht haben. Wir sind froh, dass wir die Meirinkan Schule und ihre Museen besucht haben, Hagi kann stolz auf die ruhmreiche wissenschaftliche und industrielle Vergangenheit seiner Bewohner sein.

Ganz in der Nähe finden wir auf einem erhöhten Sockel Lord Motonari Mori mit seinen drei unterschiedlich alten Söhnen. Einer hält einen, oder sind es mehrere zusammengebundene Pfeile in der Hand.
Er erzählt ihnen im Jahr 1557, nachdem sein Clan besiegt worden war und Mori bereits wenige Jahre später selbst eine andere Provinz unter seine Herrschaft gebracht hatte, die Geschichte, die in jede Krisenzeit passt, auch in die heutige.
Je mächtiger eine Familie wird, desto eher kommt es unter den Nachfolgern zu Streitigkeiten und macht den Familienverbund angreifbar und verwundbar. Dazu bricht Lord Mori einen Pfeil ohne besondere Anstrengung. Danach bindet er drei Pfeile, die seine Söhne symbolisieren, zusammen und demonstriert ihnen, dass sie so nicht gebrochen werden können, d.h., wenn die Söhne zusammenhalten, bleiben sie unbesiegbar.

Gut, dass so ein kleines Monument uns an unsere Stärken erinnert, die im modernen Leben schnell von unseren Egoismen überschattet werden. Diese Geschichte wird in Japan von Generation zu Generation weitergegeben.

Vor unserem Haus gibt es eine weite Wiese mit vollblühenden Kirschbäumen, die einlädt darunter zu sitzen und die Kirschblüten zu bewundern. Dieser Einladung sind zwei alte Damen gefolgt und haben sich auf einem großen Felsbrocken zum Kaffeetrinken niedergelassen. Wir lieben solche Begegnungen und möchten ihre Geschichte hören. Die beiden sind 89 und 90 Jahre alt, Freundinnen aus Hagi. Sie genießen es jedes Jahr aufs Neue auf diesem Stein unter den Kirschblüten zusammenzusitzen und über ihr Leben in Hagi zu philosophieren.

Genauso wie die beiden jungen Mädchen, die nicht weit entfernt auf ihrer Decke sitzen, um dort ein Picknick abzuhalten. Sie lassen sich nicht von unserer Bitte, sie fotografieren zu dürfen stören. Ganz im Gegenteil, die beiden kichern, dass sich ein Ausländer für sie interessiert und ein Foto von ihnen unter Kirschblüten schießen möchte.

Gleich um die Ecke unseres Hauses, im Weltkulturerbe Viertel Joka-Machi haben gestern beim ersten Rundgang zwei Häuser unsere Aufmerksamkeit erregt.

Beim Eintreten ins Teehaus muss sich der Besucher tief bücken, seine Schwerter draussen lassen, auch ein Samurai. Edelleute dürfen keinen Schmuck tragen. Im Teehaus sollen alle Menschen gleich sein – egal welchen Standes sie sind.

Ein altes japanisches Holzhaus, das Teehaus Seisei-an zieht uns durch seinen verwunschenen Garten zur Teezeremonie. Wir setzen uns zur Teemeisterin, Frau Morita, ans offene Fenster ihres Teezeremonienraums. Während sie zunächst Süßigkeiten und später Macha Tee serviert, kommen wir mit ihr ins Gespräch. Die Dame zeigt uns ein ziemlich zerfleddertes Buch ‚The Book of Chano-yu Tea, The master key to Japanese culture‘ von Randy Channell Soei und erzählt uns, wie sie anhand der Bilder in diesem Buch mit ausländischen Besuchern, mit denen sie in Englisch nicht sprechen kann, kommuniziert. Was sie über die japanische Kultur des Tees und der Teezeremonie in Englisch nicht ausdrücken kann, aber unbedingt erklären möchte, zeigt sie mit den Bildern in diesem Buch. Herrlich ihr zuzuhören. So lernen wir von ihr auch etwas Neues über die drei Teeschulen Japans, alle in Kyoto von den Nachfolgern des berühmten Teemeisters Sen no Rikyu (1522 – 1591) gegründet. Ura-senke, Omote-senke und Mushanokouji-senke. Eigentlich sind Philosophie und Handhabungen der Zeremonie bis auf einige Unterschiede gleich. Was sich unterschiedet ist eine unterschiedliche Richtung, die bei der Ura-senke Schule auf die Zufriedenheit des Gastes zielt, bei Omote-senke auf Einfachheit.
Schmunzelnd erzählt Frau Morita eine kleine Geschichte: Eines Tages sprach sie ein Gast darauf an, dass sie den Tee nicht kräftig genug zu Schaum geschlagen hätte und meinte, dass sie sich für die Zubereitung wohl nicht genügend Zeit genommen hätte. Als Vertreterin der Omote-senke Schule legt sie Wert auf Einfachheit, die den Macha-Geschmack hervorhebt, nicht den schaumig geschlagenen Tee. Aber das weiß eben nicht jeder.

Für ein Foto von ihr mussten wir erst ihre hohe Schwelle der Zurückhaltung überwinden. Sie gehört zu den bescheidenen japanischen Damen, die seit über 60 Jahren die japanische Kultur der Teezeremonie ausführen, lehren und verbreiten. Wir haben sie in unserer Herz geschlossen und sind sehr froh, dass wir sie treffen und mit ihr sprechen konnten.

Schräg gegenüber des Teehauses liegt hinter weißgetünchten Mauern, das von außen nicht in seiner Größe zu erkennende Anwesen Kikuya. Es ist zu besichtigen, uns zieht es schon allein wegen seiner Größe an.
Die Kikuya Familie waren Händler, die für Lord Mori sämtliche Geschäfte abwickelten, der Kaufmann der Fürstenfamilie. Hier wurde für das Fürstentum ein- und verkauft, gelagert, veredelt, finanziert und die Logistik übernommen. An den großzügigen Räumlichkeiten, in denen Gäste empfangen und bewirtet wurden, können wir noch heute die Bedeutung dieses General-Handelshauses erkennen. Besonders gegen Feuer gesicherte Lagerhäuser und Speicher, Übernachtungsmöglichkeiten für Gäste sowie Ställe für deren Pferde, werden für uns lebendig. Uns beeindrucken die gepflegten Parkanlagen mit den verschiedensten Gebäuden, in denen die Gäste früher unterhalten wurden. Ein Beispiel dafür, dass die Aussage schon immer Gültigkeit hatte, dass im Handel der Segen liegt.

Es ist volle Kirschblütenzeit, wir wollen von einem Boot aus die blühenden Kirschbäume, auf der Fahrt zum Meer bewundern und buchen eine einstündige Bootsfahrt. Besonders im Gedächtnis geblieben ist die schöne, männliche Stimme des Bootsführers, der Lieder über die 8 schönsten Landschaften von Hagi singt. Beim Anblick der kilometerlangen blühenden Kirschbaumreihen verschlägt es uns den Atem. Alleine für den Anblick hat sich die Fahrt gelohnt. In der kleinen Meeresbucht sehen wir dann noch die Mauerüberreste der ehemaligen Burganlage der Fürsten Mori. Hier wird uns die ehemalige Bedeutung der Stadt Hagi als Sitz der Fürstenfamilie erst richtig bewusst. Die Schlossanlage muss einmal riesig gewesen sein. Was übrig geblieben ist, ist noch immer die Liebe der Menschen in Hagi zu ihrem Fürsten Mori. Aber auch eine Anlage, die auf Befehl der Tokugawa Shogune geschliffen werden musste. Denn es galt: nur ein Schloss pro Land.

Hagi, ist ein Reise wert. Gerade ohne den überall in Japan erlebten Overtourismus spüren wir hier etwas von der alten Stärke der Menschen der Präfektur Yamaguchi.
In einem supergut restaurierten Samurai Haus zu übernachten, erleben wir auch nicht alle Tage auf unseren Reisen. Was fehlt, ist die Tiefe unserer Begegnungen. Wir sind eben doch Touristen und keine Entdecker.