Grüße 2 zum Sommer 2015 – Sommergras und Zollverein

Uns treibt seit Jahren ein Haiku des japanischen Dichters Matsuo Basho (1644-1694) um. Er schrieb es als er oberhalb eines Schlachtfeldes in Hiraizumi, im Norden Japans, stand und er spürte wie viele Tausend Samurais dort sinnlos ihr Leben im Kampf lassen mussten:

„Sommergras – das ist alles was übrig blieb von alten Soldatenträumen“

Sommergras sehen wir auch heute überall um uns herum. Ganz deutlich wurde es uns allerdings bei einem Besuch des Unesco-Welterbes Zollverein in Essen am letzten Sonntag.

1851 wurde die Zeche Zollverein von Franz Haniel in Betrieb genommen, dann in den Jahren 1928-1932 von den Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer zur schönsten Zeche Europas ausgebaut. In den Jahren 1957 bis 1961 wurde Zollverein durch die größte Zentralkokerei Europas ergänzt. Zeche und Kokerei hatten mit zum deutschen Wirtschaftswunder beigetragen und dynamischen Schwung in die Wirtschaft des gesamten Ruhrgebiets gebracht. Für Politiker, Wirtschaftsbosse, Unternehmer und jeden einzelnen Mitarbeiter mit seinen Familien war das vielleicht die ambitionierteste, hoffnungsvollste und glücklichste Zeit des Aufbaus. Und dann, Weihnachten 1986, also 135 Jahre nach der Inbetriebnahme wurde zunächst die Zeche, die einmal als schönste und leistungsstärkste Zeche der Welt galt, geschlossen. Die Schließung der Kokerei folgte Mitte des Jahres 1993, also schon 32 Jahre nach Errichtung dieses riesigen Komplexes.

IMG_6834_1Das 100 ha große Areal der Zeche und Kokerei Zollverein wurde nach einigen Jahren in ein begehbares Industriedenkmal mit 253 Gebäuden umgewidmet. Der alles überragende Förderturm, riesige Maschinen, lange Förderbänder, Museen für Kultur- und Industriegeschichte der Ruhr sowie Design und Architektur, Ateliers und mehrere Restaurants, Biergärten und Cafés bilden heute zusammen mit gut ausgebauten Spazier- und Radwegen ein eindrucksvolles, zum Nachdenken anregendes kultur- und industriegeschichtliches Gelände. Im Jahre 2001 wurde Zollverein verdientermaßen zum Unesco-Welterbe erhoben. (www.zollverein.de)

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Eindrucksvoll ist das im Sommer geöffnete „Werksschwimmbad“, eingerichtet in einem 40“ Container mit kleinen Fenstern. Und das vor dem ehemaligen Eingang zur früher größten Kokerei der Welt, genau an der Stelle, an der 32 Jahre lang die Kohle bei 1.000°C zu Koks IMG_6857_1verarbeitet wurde. Freizeitvergnügen auch im Winter, wenn auf einer 150m langen Eisbahn, direkt neben der Kokerei Schlittschuh gelaufen wird. Eine irreale, auf der Welt bestimmt einmalige Kulisse im Sommer und im Winter.

Beim Wandern durch das riesige Gelände kommen Gedanken auf: wie viel Geld wurde hier investiert, hat sich das zB. für die Kokerei in den 32 Jahren rentiert? Hier haben sich Menschen gefreut zur Arbeit zu gehen und ihr Leben darauf auszurichten. Sie IMG_6810_1haben Häuser gebaut, Familien gegründet, haben gefeiert und sicherlich später Ängste über den Verlust ihrer Arbeitsplätze gehabt. Hier haben Unternehmen Milliarden Umsätze getätigt, Ausbildung betrieben und Karrieren gefördert. Eine Welt für sich, in der später bestimmt auch um den Erhalt der Arbeitsplätze gekämpft werden musste. Träume, die endgültig 1993 mit der Schließung der Kokerei geplatzt sind.
Was mögen zu der Zeit die Mitarbeiter, ihre Familien mit ihren Kindern, Zulieferer und Dienstleiter über ihre Zukunft gedacht haben? Alles Fragen und Gedanken, auf die es keine Antworten gibt.

IMG_6835_1Wir reden jetzt losgelöst von allen Gefühlen und Schicksalen der betroffenen Menschen über den Strukturwandel im Ruhgebiet und besichtigen staunend das heutige Unesco-Welterbe Zollverein.
Aus dem Milliardengeschäft ist ein Ort für Geschichte und Kultur, Kunst und Tourismus geworden. Doch geplatzt sind alle schönen Träume einer sich immer weiter entwickelnden, aber sich hoffentlich niemals verändernden industriellen Zukunft. Die wirtschaftliche Entwicklung ist über Zollverein hinweggegangen, daraus entstanden ist gut gepflegtes Sommergras.

Und während wir noch unseren Gedanken über Zollverein und dem Wandel nachhängen, rollt schon die nächste, alles wieder bisher Gültige infrage stellende Revolution der Digitalisierung auf uns zu. In den kommenden Jahren könnte dadurch noch mehr Sommergras entstehen, wenn nicht bereits Pläne bestünden Zollverein als Standort für Bildung mit vielen innovativen Unternehmen auszubauen. So jedenfalls steht es im Vorwort des Vorstandvorsitzenden der Stiftung Zollverein, Hermann Marth im Zollverein Magazin 03/2015.

IMG_6811_1Das Welterbe Zollverein ist als Industriedenkmal ein wirklich gelungener, gepflegter Park. Dennoch, wir kamen mit einem gewissen, wehmütigen Gefühl zurück zu unserem Auto. Und als wir vom Parkplatz aus die gesamte weitläufige Kulisse Zollverein vor uns sehen, sprechen der Förderturm, das Skelett der Kokerei und das gesamte Areal als Zeitzeugen einer vergangenen Zeit zu uns:

Sommergras, das ist alles was übrig blieb von einstigen Industriemacht-Träumen.

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Schöne Sommertage.