Nach dem Beben – Auf Spurensuche in Wajima, Japans Stadt des Lackhandwerks
In Deutschland wurde damals die Meldung schnell übersehen. Die Deutschen befanden sich im Weihnachtsurlaub. Außerdem: Japan ist weit weg und da passieren immer wieder Erdbeben, von denen wir als Unbeteiligte kaum Notiz nehmen. Doch, am Neujahrstag, dem 1. Januar 2024 um 16.10 erschütterte ein Erdbeben der hohen Stärke 7,6 (Fukushima 2011 9,0) die japanische Noto-Halbinsel an der japanischen Meerseite. Das Epizentrum lag direkt unter der Halbinsel. Die Menschen saßen zusammen und feierten das Neue Jahr.
Laut Japan Times kamen 549 Menschen ums Leben, 1.393 wurden zum Teil schwer verletzt. 6.483 Häuser wurden total, 23.458 teilweise zerstört. 160.000 Häuser wurden beschädigt. 34.000 Menschen musste evakuiert werden, mehr als 20.000 von ihnen leben noch immer in 6.882 Behelfsbehausungen in 10 verschiedenen Städten.
In der kleinen Stadt Wajima hat das Erdbeben und die Brände besonders gewütet. Dort stürzten viele der 6.483 Gebäude ein, Brände zerstörten das historische Stadtzentrum, Straßen rissen auf oder wurden von Gesteinsmassen versperrt. Besonders hart getroffen hat es 17 der 107 Werkstätten der Wajima-Lackkünstler, die das uralte Wissen seit vielen Generationen weitergetragen haben und die in ganz Japan und darüber hinaus berühmt sind, ihre Werkstätten sind total ausgebrannt. 50 davon wurden zum großen Teil total oder teilweise zerstört.
Wajimanuri, die besonderen Wajima-Lackwaren, werden von einem Netzwerk von 124 spezialisierten Kunsthandwerkern geschaffen. Einer macht die Holzarbeiten, andere lackieren und andere wiederum polieren. Ein eingespieltes, seit hunderten von Jahren gewachsenes Netzwerk. Heute, schätzt man, arbeiten weniger als 50 der ehemals rund 124 aktiven Künstler, teils in Übergangswerkstätten, oder in ihren nur weniger beschädigten Werkstätten auf dem Land.
Wir waren vor ein paar Tagen in Noto, etwas über eine Flugstunde von Tokyo Haneda entfernt. Dort haben wir mit eigenen Augen gesehen, was anderthalb Jahre später nach dem Erdbeben geblieben ist. Zusammengefallene Häuser sehen wir nur noch wenige, die meisten sind zwischenzeitlich abgeräumt worden, die Stadt Wajima sieht um den Bahnhof herum aus wie ein Gebiss mit Zahnlücken. Wo früher Häuser standen, gibt es heute viele Freiflächen.
Wir haben mit großer Freude auch gesehen, wie die Familie Hikimochi, nahe dem Flughafen Noto, mit Geduld und rühriger Hingabe an der Rettung eines Kulturerbes und an der Vision die landwirtschaftlich geprägte Halbinsel Noto zu einem Zentrum für die ‚Flucht aufs Land‘ zu gestalten, arbeitet. Nur wenige Kilometer südlich von Wajima, mitten auf dem Land, in einer Reihe neben drei alten Bauernhäusern mit weiten Reisfeldern vor dem Haus, liegt das Wohnhaus mit Werkstatt der Hikimochis. Ihr Raku-Studio ist die einzig verbliebene Werkstatt, die sich auf Wajima-Lackkunst mit der Reparatur von Lackwaren spezialisiert hat, eine stille, konzentrierte Arbeit, der in dieser Zeit des Wiederaufbaus eine besondere Bedeutung bekommt.
Wir werden von Tamao Hikimochi empfangen, die uns mit warmer Stimme und einem entschuldigenden Lächeln begrüßt, denn ihr Haus mit Werkstatt ist immer noch beschädigt. Risse in den Wänden, ein abgesackter Boden mit ringsum ausgelegten blauen Plastik-Bahnen, die vor einsickerndem Regenwasser provisorisch schützen sollen. „Wir reparieren Schritt für Schritt“, sagt sie. Dennoch, auch anderthalb Jahre nach dem Beben sind die Spuren des Bebens noch überall sichtbar. Hinter dem Haus ein steiler Anhang, auf dem hoch oben ein Lack Baum steht, von dem die Hikimochis schon den begehrten Saft, als Grundmaterial für den Speziallack ernten könnten. Das ist ähnlich wie bei Kautschuk Bäumen, die Rinde wird mit einem Spezialmesser eingeritzt und der herunterfließende Saft in Behältern als Grundstoff für den späteren Lack gesammelt. Heute, allerdings wird das Material aus China angeliefert und vor Ort erst verfeinert.
Es gibt immer wieder Menschen, die uns schon in der ersten Sekunde regelrecht anspringen und mit denen das Gespräch wie ein Ping Pong von einem Thema aufs andere fliegt. Bei Frau Hikimochi ist das so, lebhaft, voller Energie und übersprudelnder Informationen. Sie ist die Ehefrau von Rikio Hikimochi, der, nach 10-jähriger Lehrzeit, in den 1980er Jahren das Lack-Studio RAKU gegründet hat. Rikio-san ist Künstler, der heute als einer der wenigen, noch alle Schritte der traditionellen Wajima-Lacktechnik beherrscht (es sollen über 100 Arbeitsschritte sein, von der Auswahl des Holzes bis zur letzten Politur). Der Lack wird in bis zu 20 hauchdünnen Schichten aufgetragen, jede Schicht muss trocknen, nachgeschliffen und erneut aufgetragen werden. In Wajima wird zudem eine besondere Technik angewendet: eine Mischung aus Lack und pulverisierter Erde, die einzigartig in Japan ist. Das Ergebnis sind Gebrauchsobjekte, die jahrzehntelang halten, manchmal über Generationen. Wie wir im Laufe des Gesprächs mit ihr erfahren, übernahm Frau Hikimochi die Verantwortung für Vertrieb, Öffentlichkeitsarbeit und Planung und unterstützte so die kunst-handwerklichen Fähigkeiten ihres Mannes. Da ihr Mann nicht auf eine generationenübergreifende Abstammung in diesem Handwerk zurückblicken konnte, meinen wir herausgehört zu haben, dass sich die Hikimochis, in diesem traditionellen Umfeld erst einmal durchbeißen mussten.
Heute wird das Atelier von ihrem Sohn Kazuyori Hikimochi geleitet, der die zweite Generation der Familie in diesem Handwerk repräsentiert. Seine Ausbildung hat er bei dem buddhistischen Altarhersteller in Nanao auf Noto genossen. 2017 kam er zurück in den elterlichen Betrieb. Kazuyori-san hat eine neue Technik namens „Kokemuso“ entwickelt, mit der er Trinkbecher und Schalen herstellt. Dabei ist das Grundmaterial nicht Holz, sondern besteht aus Leinentuch, das so oft mit Lack bearbeitet wird, bis es zum Beispiel zu einem Becher geformt werden kann und dessen Äußeres seine individuelle Form angenommen hat. Er führt das Studio mit einem Fokus auf Innovation und Nachhaltigkeit mit aufwendigen Reparaturen weiter.
Frau Hikimochi führt uns in den ersten Stock des Wohnhauses, hier treffen wir ihren Sohn und seine Frau, auf dem Boden sitzend, vertieft in die Überarbeitung von Suppenschalen. In der Werkstatt ist es ruhig. Der Geruch von Lack liegt in der Luft. Kazuyori-san fragt uns, ob wir auch mal versuchen wollen mit einem langen Federpinsel kleinste Staubkörnchen im Lack zu beseitigen. Wir lehnen dankend ab, uns fehlt die Ruhe die Feder zu führen, das würde nur weitere Schäden anrichten. In der Werkstatt nebenan trägt er mit ruhiger Hand eine dünne Schicht „urushi“, den natürlichen Lack des Lackbaums, auf. Sein Arbeitstisch ist total mit Lack regelrecht versiegelt, ein Kunstwerk für sich, das eigentlich den Weg als Objekt in eine Kunstaustellung finden müsste. Auch hier müssen wir seine Frage, ob wir es selbst einmal probieren wollen ablehnen. Gerade aus dem Flugzeug gestiegen, zu den Hikimochis gefahren und dann mit ruhiger Hand Lack im my-Bereich aufzutragen, überfordert unsere Geschicklichkeit. Wenn wir seine Werkstatt sehen und seine Arbeitsschritte überdenken, erkennen wir, warum Wajima-Lackarbeiten so teuer sind. So kostet eine einfache Suppenschale 120 x 110 mm Yen 20.000, „Kyara-nuri“ Suppenschalen, bei denen der rote Grundlack strahlenförmig durchscheint und die bei Gebrauch ihre Farbe weiter verändern, kosten 60 x 60 mm Yen 45.000, 125 x 80 mm Yen 150.000. Vielleicht sind solche Preise auch der Grund, warum Wajima-Lackarbeiten in Deutschland selten zu finden sind. Der Verkauf geht entweder direkt vom Studio oder über japanische Kunstgalerien oder über spezialisierte Auktionshäuser. Jeder Kauf ist heutzutage auch eine stille Unterstützung für die Erhaltung dieser japanischen Kultur, ganz besonders jetzt.
Das war auch der eigentliche Grund unseres Besuchs bei Familie Hikimochi.
Miye`s Mutter hatte uns eine von ihr selbstgefertigte dreistufige schwarz lackierte Bento-Box mit silbern hinterlegten Schnitzereien, mit Deckel und Bodenplatte hinterlassen. In Düsseldorf ist das Holz an einigen Stellen gerissen und der Lack stumpf verblasst, verglichen mit Japan ist es bei uns einfach zu trocken, was überhaupt nicht gut für wertvolle Lackarbeiten ist.
Wir wollen diese Box bei den Hikimochis reparieren und aufarbeiten lassen und hatten sie im Vorfeld unsers Besuchs zu ihnen geschickt. Jeder einzelne Arbeitsschritt wurde mit uns durchgegangen und Tage nach unserem Besuch das Angebot abgegeben. „Es dauert Wochen, manchmal Monate, bis wir eine einzige Reparatur abschließen können“, erklärte Frau Hikimochi. „Jede Schicht muss in einem feucht gehaltenen Raum aushärten. Das passiert ganz einfach durch feuchte Handtücher, die wir in der Trockenkammer aufhängen, ganz natürlich, ohne jegliche Maschinen“. Zwischenzeitlich haben wir den Auftrag erstellt unsere Box zu restaurieren, denn mit jedem wiederhergestellten Detail wächst auch die Hoffnung, dass Wajima nicht nur ein Ort der Erinnerung bleibt, sondern auch wieder eine Zukunft hat.
Wir verlassen das Raku-Studio mit stiller Bewunderung, nicht nur für die Arbeiten von Kazuyori-san, sondern auch wegen seiner energiegeladenen Mutter. Sie engagiert sich gleichzeitig für die lokale Gemeinschaft, insbesondere für die Wiederbelebung der ländlichen Umgebung von Wajima. Sie plant, ein erdbebenbedingt unterbrochenes Besucherprogramm wieder aufzunehmen, bei dem Gäste die Herstellung von Wajima-Lackwaren und den Anbau von Reis hautnah erleben können.
Unsere Bewunderung gilt nicht großen Worten, sondern der Beharrlichkeit dieser Familie. In einem reparierten Teil liegt manchmal mehr Hoffnung als in einem neu erstellten Lack-Produkt.