Etwa fünfeinhalb Jahre nach der Erdbeben- und Tsunami Katastrophe im März 2011 und zwei Jahre nach unserem letzten Besuch im Nordosten Japans wollten wir jetzt sehen was sich an der Küste Japans verändert hat und wie es den Menschen dort geht.

Von Tokyo fuhren wir die mehr als 500 km mit dem Shinkansen über Fukushima und Sendai bis nach Shin-Hanamaki in gerade mal drei Stunden. Direkt am Bahnhof nahmen wir uns einen Leihwagen, einen Toyota Prius Hybrid, um zu unserem Ryokan Horai-kan zu kommen.
Der Ryokan liegt direkt am Meer, ganz in der Nähe der Stadt Kamaishi in der Iwate Präfektur.

Kenji Miyazawa

Nicht weit entfernt vom Shinkansen Bahnhof Shin-Hanamaki befindet sich das Kenji Miyazawa Memorial Museum. Er wurde 1896 in Hanamaki geboren, war Philosoph, Dichter, Autor von Kinderbüchern, Lehrer für Landwirtschaft und auch Sammler von seltenen Steinen. Für Miyazawa Anhänger ist es daher ein Muss dieses kleine Museum zu besuchen. Beeinflusst wurde Kenji Miyazawa vom Nichiren Buddhismus, dies drückt sich besonders in seinem Gedicht aus – Ame ni mo makezudas übrigens jeder Japaner kennt.

Eine Übersetzung könnte so lauten:img_2043_1

Regen wiederstehen
Sturm wiederstehen
Auch Schnee und Sommerhitze
Durch die Erhaltung eines starken Körpers
Ohne Gier
Ohne Ärger
Immer ruhig lächelnd
Täglich nur vier Schalen braunen Reis
Mit etwas Miso und ein wenig Gemüse zu essen
Alles genauestens beobachtend
Aufmerksam zuhörend und verstehend, nichts vergessend
Bei allem nie das Selbst voranzustellen
In einer kleinen reetgedeckten Hütte auf einem Feld
Im Schutz eines Kiefernwaldes zu leben

Wenn Kinder im Osten krank werden
Diese zu pflegen
Wenn eine Mutter im Westen unter der Last ermüdet
Ihr Reisbündel zu tragen
Wenn ein Mensch im Süden im Sterben liegt
Ihm Trost zuzusprechen und Ängste zu nehmen
Wenn sich Menschen im Norden streiten
Sie davon abzuhalten ihre Zeit sinnlos zu verschwenden

In Dürrezeiten Tränen zu vergießen
Bei Kälte im Sommer hilflos umherzuirren
Ein Strohkopf genannt zu werden
Nie gelobt zu werden
Und nie jemanden zur Last fallen

Dies ist der Mensch, der ich sein möchte.

Im Auto hatten wir mehrere Stunden Zeit über den Sinn dieses Gedichtes zu diskutieren.
Das Frugale, das sich hinten Anstellende und die Selbstlosigkeit erinnerte uns an verloren gegangene, protestantische Tugenden. Können wir heute immer noch so denken? Müssen oder können wir uns wieder mit dieser selbstlosen Einfachheit und der Liebe zum Nächsten anfreunden? Fragen, die uns auf der Fahrt beschäftigten. So auch seine Botschaft, die er der Welt hinterlassen hatte:

Wenn die Welt insgesamt nicht glücklich sein kann, dann kann auch der einzelne nicht glücklich sein.
Niemand kann glücklich werden bis die ganze Welt glücklich ist.

Diese Kernbotschaft hat er geschrieben als er schon krank und gebrechlich im Krankenbett lag. Vielleicht hatte ihm auch der bevorstehende Tod die Augen für diese Menschlichkeit geöffnet.

Dazu später mehr, wenn wir von unserem Besuch und dem Gespräch mit Herrn Sasaki berichten.

Tono Furusato-Mura

Auf unserer Fahrt nach durch die wunderschöne, friedliche, hügelige japanische Landschaft in Richtung Kamaishi machten wir einen kleinen Umweg mit Zwischenstop in der Nähe der Stadt Tono. Dort wollten wir das Freilicht Museum Tono Furosato-Mura – Die Heimat von Tono img_2044_1besuchen. Es ist kaum ein Mensch zu sehen. Im weiten Museumsdorf reihen sich mehrere gut erhaltene Bauernhäuser aneinander. Wir hatten den Eindruck in einem richtigen, alten Dorf mit Reisfeldern, Teich und Gartenanlagen zu wandern und uns in den einzelnen, gepflegten Häusern umzusehen. Dann hieß es, immer wieder die Schuhe auszuziehen wegen des Tatamibodens. Das war kein ausgestorbenes Museumsdorf, ganz im Gegenteil, jeden Augenblick könnten uns die Einwohner vom Feld kommend begegnen. In dieser Gegend wurde früher Pferdezucht betrieben, deshalb sind diese reetgedeckten, wuchtigen Bauernhäuser im rechten Winkel gebaut worden. Rechts die Menschen, links die Pferde.

Kamaishi und Umgebung

Eine Stadt direkt am Meer, durch das riesige Stahlwerk von Nippon Steel geprägt. Der Teil Kamaishis, der an einer weiten Meeresbucht liegt, wurde durch den Tsunami am 11.3.2011 total verwüstet. Wir waren gespannt wie es dort heute aussieht. Unsere Vorstellung war, dass in den vergangenen Jahren mit dem vielen Geld der Zentralregierung in Tokyo neue Wohn- und Geschäftsviertel entstanden sind. Wir sollten schwer enttäuscht werden.

Schon auf dem Weg durch die höher gelegenen Stadtteile, vorbei am Stahlwerk, fielen uns die LKWs mit Ladungen voller dunkler, faustgroßer Steine auf. Jede Menge Tieflader mit Baggern und Planierraupen, und überall die in Japan an allen Baustellen eingesetzten uniformierten Einweiser mit ihren roten, nachts beleuchteten Warnstöcken. Und dann sahen wir es. Die Stadt am Meer gab es nicht mehr. Großbaustellen, festgefahrene Wege, die als Straßen genutzt wurden. Und immer wieder die LKWs, die ihre Steinladungen da abluden, wo früher einmal die Stadt gewesen sein musste. Zu hohen Pyramiden aufgetürmt und am oberen Ende abgeflacht, sollen sie später einmal das Fundament der neuen Stadt werden, nur etwa 5, 10 oder 15 Meter höher gelegt als bisher. Mit der Aufschüttung der Fundamente für die Anlage der neuen Stadt soll den Bürgern Sicherheit vor einem nächsten, vielleicht noch schrecklicheren Tsunami gegeben werden. Gespenstisch.