Jedes Jahr im Frühjahr und Herbst zieht es uns nach Kyoto.
In die alte Kaiserstadt lockt uns unser Freund mit Gesprächen, die nur unter langjährigen Freunden geführt werden können und natürlich zu Abendessen in früheren Teehäusern im Geisha Viertel Gion.
Wir könnten bequem in Shin-Yokohama in den Shinkansen einsteigen und wären bereits nach zweieinhalb Stunden in Kyoto. Doch selbst nach 45 Jahren „Japan intensiv“ gibt es auf dem Weg dorthin immer wieder Neues zu entdecken, zu erkunden und zu erfahren.
Viele Erzählungen ranken sich um den Kurobe Staudamm auf der Tateyama Kurobe Alpen Route zwischen den Präfekturen Toyama und Nagano. Der Staudamm gehört zu den größten japanischen Ingenieur-Leistungen in den 1950/60er Jahren und wurde in nur 7 Jahren Bauzeit fertiggestellt. 1963 in Betrieb genommen.
So wird erzählt, dass es dort sehr kalt und sehr windig sei, dass es selbst im Oktober dort schneien könnte. Gewarnt wird vor mehr als zweihundertzwanzig Treppenstufen, die zu überwinden sind, und die an einer Betonwand wieder runterzusteigen Mut erfordert. Eine Erkundung soll über fünf bis sogar acht Stunden andauern. Dabei helfen fünf verschiedene Transportmittel, die den Besucher auf Höhen von weit über zweitausend Meter bringen. Die Alpen Route kann nicht mit dem Auto befahren werden, das muss in Ogisawa in der Nagano Präfektur abgegeben werden. Dort wird es von einem Fahrer übernommen, der das Auto nach viereinhalbstündiger Fahrt um die japanischen Alpen herum in Tateyama wieder abliefert. Das klingt abenteuerlich, kaum vorstellbar, dass wir dorthin nicht mit unserem eigenen Wagen fahren können.
Am Montag, den 24. Oktober beginnt unser Kurobe Damm Abenteuer bei Regen.
Warme Jacken, Mäntel, Westen, Pullover, Nordic Walking Stöcke und Regenschirme füllen unser Auto. Wir wissen ja nicht, was uns wettermäßig erwartet. Insgesamt werden wir auf dieser Reise eine Woche lang unterwegs sein. In Awajishima und Kyoto erwartet uns Sonnenschein, also statten wir uns aus wie zu einer Expedition in die Arktis mit anschließendem Strandurlaub. Vor uns liegen zunächst zweihundertfünfundsiebzig Kilometer. Teilweise heftiger Regen und ein Riesenstau bereits in Yokohama, vor Erreichen der Autobahn in Richtung Nagano, lassen nichts Gutes erahnen. Nach viereinhalb Stunden erreichen wir unser Hotel in Shinano Omachi. Das ANA Holliday Inn Resort Kuroyon. Kaum kommen wir an, bricht die Sonne durch und vertreibt die dunklen Regenwolken. Das Hotel ist riesig, das Zimmer auch. Ringsum gibt es nichts, außer einem Golfplatz, Wälder und Berge. Koyo, die herrlichen Herbstfärbungen von Orange ins dunkle Rot und immer noch den grünen Bäumen. Wunderbar!
Wir fahren vom Hotel zum Bahnhof, um dort die Tickets für morgen abzuholen, die wir per Internet bestellt haben. Auch wollen wir prüfen, wie lange die Fahrt morgen dorthin dauert. Erstmalig sehen wir am Straßenrand wilde Affen, die sich bei Annäherung mit dem Auto in die Büsche schlagen. Sie haben die Größe von Schimpansen, ihre Gesichter und ihr Hintern sind auffallend rot, das ist das besondere Merkmal dieser japanischen Affen. Nach nur fünfzehn Minuten kommen wir am Bahnhof Ogisawa an. Unterwegs ist uns kein anders Auto begegnet. Ob wir hier richtig sind? Der Fahrkarten-Schalter ist besetzt, der Preis für die Nutzung der unterschiedlichen Verkehrsmittel bis nach Tateyama ist Yen 9.300 (ca. EUR 60) pro Person. Dazu gibt es einen Zeitplan mit den Abfahrtzeiten der jeweiligen Verkehrsmittel. Wir werden unser Abenteuer morgen früh um 9:30 Uhr beginnen.
Der Autoservice rief uns am Abend an, um den Termin morgenfrüh zu bestätigen. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Tatsächlich, bei unserer Ankunft rennt schon ein Mann vor uns über die Straße, um uns einen Parkplatz zuzuweisen – obwohl hier alles leer ist.
Er ist der Fahrer, der unser Auto übernehmen wird. Selbst kleine Beschädigungen an den Felgen vermerkt er in einem Übernahme-Protokoll. Er wird den Wagen gegen 14:30 Uhr am Bahnhof in Tateyama wieder an uns übergeben.
Einen Rucksack mit weiteren Daunenjacken, mit leeren Wasserflaschen, die wir am Staudamm füllen wollen, dazu unsere Wanderstöcke, das alles schleppen wir bei normalen Temperaturen zur Abfahrt der Busse die Treppe hoch.
Oh Schreck. In zwei langen Warteschlangen stehen hier hundert Mitreisende und warten geduldig, natürlich mit Masken, auf den Bus zum Staudamm um 9:30 Uhr. Und wir dachten, wir wären die einzigen…
Und dann packt es doch noch. Die Aussicht auf Schnee und Kälte in den Bergen verführt uns dazu schnell noch am Kiosk warme Handschuhe zu kaufen. Pünktlich setzen sich die beiden nunmehr ordentlich angewachsenen Schlangen in Bewegung. Jedes Ticket wird gescannt. Vor uns stehen drei Elektro-Busse, wir werden zum ersten Bus geführt und können im Gedränge nur noch Stehplätze neben der Reiseleiterin einer japanischen Gruppe ergattern. Sie klärt uns auf, dass nach Corona viel weniger Besucher kämen. Insbesondere keinen Ausländer. Ja, wie auch, die dürfen doch erst seit dem 11. Oktober ohne Visum einreisen. Als sie sich nur einen dünnen Anorak überzieht, stecke ich die warmen Handschuhe erstmal in meine Jackentasche. Das Ticket kommt in die Gesäßtasche. Die Fahrt zum Kurobe Damm dauert lediglich sechzehn Minuten. Der Bus fährt mit einem Affenzahn die ganze Zeit im engen Tunnel. In der Mitte der Strecke liegt eine Ausweichstation für drei Busse aus dem Gegenverkehr.
Bei der Ankunft, immer noch im Tunnel, zieht es gewaltig. Es ist, wie vorhergesagt, saukalt. Also ziehen wir noch die Dauen Jacken aus dem Rucksack über. Und dann gibt es die erste Entscheidung: Wollen wir die berühmen zweihundertzwanzig Treppenstufen nach oben nehmen, oder direkt zur Staumauer weitergehen? Apropos Treppenstufen, es handelt sich um ungewöhnlich steile, extrem hohe Stufen. Ein Mitarbeiter empfiehlt per Megafone, dass nur solche Leute, die sich die Strapazen auch zutrauen, diesen Weg nehmen sollen. Angesichts von Franks Knieproblemen entscheiden wir uns für den direkten, bequemeren Weg zu Staudamm.
Auf der Dammkrone pfeift trotz Sonne der erwartete, kalte Wind, die Entscheidung für die zusätzlichen Daunen Jacken war also richtig. Nur die Handschuhe hätten es nicht sein müssen. Das Bild des Staudamms mit den stützenden Beton-Bauwerken an den Seiten verschlägt uns den Atem. Menschen kraxeln an einer steilen, vielleicht fünfzig Meter hohen Betonwand über stählerne Treppen zum Damm herunter. Das sind die, die sich vorher für die zweihundertzwanzig Stufen im Berginneren entschieden haben und jetzt, wie an der Wand klebend, wieder absteigen. Uns kommt eine Frau entgegen, die sich eng an die Betonmauer drängt und vor Angst kaum vorwärtskommt. Wir haben die richtige Entscheidung getroffen!
Die Attraktion am Kurobe Staudamm ist der Wasserablass. Der wird allerdings nur bis zum 15. Oktober durchgeführt. Wir sind 10 Tage zu spät dran. Von Juli bis Oktober ergießen sich dann tosende Wassermassen aus zwei Schleusen des Damms ins Tal hinunter.
Ein beeindruckendes Zusammenspiel von Natur und Technik, das von einer Aussichtsplattform nach den zweihundertzwanzig Stufen bestens zu beobachten ist. Doch zu Testzwecken wird heute aus einer Schleuse eine geringere Menge Wasser aus dem Stausee abgelassen. Aus der Staumauer sprüht in halber Höhe das Wasser in einer riesigen Gischt Wolke und bietet uns das Schauspiel eines riesigen Regenbogens. Ah, und Oh, Fotos von verschiedenen Stellen. Gut, dass wir die zweihundertzwanzig Stufen, vor denen wir schon vorab ziemlichen Bammel hatten, nicht gegangen sind. Alles ist auf den Besucher ausgerichtet, denn andere, gut erreichbare Aussichtsplattformen erleichtern uns das Fotografieren auch von diesen Stellen.
Die Krone der Staumauer liegt auf 1,454 Metern Höhe, sie ist 492 Meter lang und hat eine Höhe über dem Stausee von 189 Metern. Die Mauer ist zwischen zwei Bergen eingeklemmt. Rechts die Präfektur Nagano, links die Präfektur Toyama. Die Staukrone verschwindet an beiden Seiten in Tunneln. Das Wasser des Stausees ist grün.
Ein Ziel unseres Besuchs ist es mit einem Schiff über den drei Kilometer langen Stausee zu fahren. Er ist der höchst gelegene See Japans. Dazu müssen wir an der gegenüberliegenden Seite des Staudamms, auf der Tateyama Seite, unter einer Betongalerie zur Anlegestelle laufen. Zum Boot geht es 110 steile Stufen runter.
Oh je, und das Knie macht jetzt schon Ärger.
Bei der Kasse bemerkt Frank, dass sich sein Ticket nicht mehr in seiner Gesäßtasche befindet. Alles Suchen hilft nichts, es ist weg. Was nun? Ein Anruf zur Web Ticket Sales Station in Tateyama mit einem geduldig zuhörenden Bediensteten, mit der Schilderung, wo Frank das Ticket verloren haben könnte (im Bus oder bei Aussteigen am Damm) bringt keine Lösung. Er bittet uns am nächsten Schalter zur Kurobe Cable-Car vorzusprechen, er würde die Leute informieren.
Das Kurioseste auf der Treppe zum Schiff ist, dass zwei asiatische Damen ihre Flugzeug-OnBoard-Ziehkoffer mit runter schleppen, ohne dabei zu stürzen. Wir werden die beiden bis zum Ende der Tour immer wieder sehen. Die dreißigminütige Bootsfahrt für Yen 1.100 (ca. Euro 6.50) führt an bewaldeten, steilen Abhängen vorbei. Wir lernen, dass selbst das Boot durch den Tunnel hierher transportiert wurde, dass sich die dichte Vegetation auf der Tateyama Seite (Buchen und Laubwälder) von der Vegetation auf der Nagano Seite (japanische Zedern) unterscheidet. In diesen Urwäldern sollen Bären, Wildschweine, japanische Rehe und Affen zu Hause sein. Wir haben keine zu Gesicht bekommen.
Nach der dreißigminütigen Fahrt werden die steilen Treppenstufen vom Boot nach oben zu einer Herausforderung, und das nicht nur für die beiden Koffertragenden Damen.
Am Schalter zur Kurobe Cable Car geschieht ein Wunder.
Wir sprechen dort vor. Nennen unsere Namen, berichten vom Missgeschick des verlorenen Tickets, von unserem Telefongespräch mit der Station in Tateyama. Die Dame hört erst mal ruhig zu, dann greift sie an ein Brett und legt uns das verlorene Ticket im Original (1/2) vor. Nicht ohne uns zu ermahnen, es nicht wieder zu verlieren, dann müssten wir ein neues kaufen. Wir fragen uns, wie das verlorene Ticket zu diesem Schalter kam. Das wird uns ein Rätsel bleiben. Oder? In Gebäuden in Japan, so auch hier am Staudamm, gibt es kein noch so kleines Papierchen, das auf dem Boden liegen bleibt. So etwas wird sofort aufgenommen, so musss es auch mit Franks Ticket passiert sein. Jemand hat es gefunden und abgegeben. Nach dem Telefonat muss es dann per Boten (wie das geschehen ist, ist des Rätsels zweiter Teil) an die Kasse der Cable Car gelangt sein. Vielleicht auch deshalb, weil wir den Verlust ziemlich genau beschreiben konnten, und wir das zweite Ticket mit der fortlaufenden Nummer und der Bezeichnung 2/2 dabei hatten. Danke für so einen Super Service!
Genau nach Fahrplan nehmen wir um 12:00 Uhr die Cable Car, eine Bahn wie am Drachenfels, nur im Tunnel. Sie bringt uns von 1.450 Metern auf 1.800 Meter Höhe. Die Fahrt steil nach oben dauert nur fünf Minuten. Dann kraxeln wir wieder Treppen hoch und runter zur nächsten Station, der Seilbahn. Die Wartelinien sind klar getrennt nach Individual Touristen und Gruppenreisenden. Hier sehen wir dann die Reiseleiterin mit ihrer Truppe wieder. Auch die wollen sich, wie wir, nicht lange aufhalten, sondern die nächste Tateyama Ropeway, schon um 12:20 Uhr nehmen. Die bringt uns in nur sieben Minuten über ein weites Tal auf den Berg Daikanbo von 1.800 Meter auf 2.315 Meter Höhe. Hier liegt der vorab besprochene Oktober-Schnee. Dennoch, die eben gekauften Handschuhe bleiben in den Taschen.
Alles ist wunderbar ausgeschildert. Wir werden vom Zeitplan, den Hinweisschildern und den vielen Treppenaufgängen vorwärtsgeführt. Wie in Japan auch nicht anders zu erwarten ist, gibt es überall Toiletten in ausreichender Anzahl, ohne Warteschlagen davor. Alles läuft nach Fahrplan, ohne eine Minute Verzögerung, sonst würde der Transport von so vielen Menschen auch gar nicht klappen. Zwischendurch dann immer wieder die steilen Treppenstufen nach oben oder unten. Wir nehmen an, dass wir am Ende der Tour etwa fünf- bis sechshundert steile Stufen bewältigt haben. Anstrengend. Dafür entschädigt uns der Blick über die japanischen Alpen, es ist überwältigend. Schneebedeckte Dreitausender rahmen den weit unter uns liegenden Stausee ein, und immer wieder unsere gegenseitige Versicherung: Es lohnt sich diese Strapazen auf uns zu nehmen. Und: Gut, dass wir die Stöcke dabeihaben.
Um 13:00 Uhr rasen wir mit einem von drei Tateyama-Trolley-Bussen zehn Minuten lang durch einen sich windenden Tunnel zur Station nach Murodo, zum Hotel Tateyama auf 2.450 Meter Höhe. Wieder kommen uns an der Ausweichstation in der Mitte drei Trolley-Busse entgegen, die wir passieren lassen müssen. Es ist gespenstig, wie waghalsig schnell die Busse im schwach beleuchteten, engen Tunnel rasen. Angekommen in Murodo, stellen wir fest, draußen schneit es. Es ist mehr Schneegraupel, der allerdings liegen bleibt und die spärliche Vegetation weiß anstreicht.
Endlich können wir entspannen. Wir haben uns etwas beeilt, um später bei Helligkeit im Anschluss an die Kurobe Tour unsere Fahrt nach Kanazawa fortsetzen zu können. Der Curry Rice schmeckt köstlich. Die Atmosphäre im Hotel können wir zwischen altmodisch und Bergsteiger Hütte beschreiben. Übrigens, sehen wir hier die beiden Koffertragenden Damen und die Reiseleiterin aus dem ersten Bus zum letzten Mal.
Auf dem letzten und auch längsten Streckenabschnitt am heutigen Tag bringt uns um 14:00 Uhr der Tateyama-Highland (Clean Diesel) Bus vom Hotel zum Bahnhof von Tateyama. Über mehr als zehn alpine Serpentinen führt uns der Weg hinunter nach Tateyama, von 2.450 Meter auf 977 Meter Höhe. Dabei fahren wir zunächst durch spärliche, teilweise leicht verschneite Vegetation, dann durch uralte Zedernwälder mit Bäumen von mehreren hundert Jahren und über pudergezuckerte weite Felder bis wir um 15:07 Uhr am Tateyama Bahnhof ankommen.
Wir freuen uns auf das Wiedersehen mit unserem Auto nach fünfeinhalb Stunden. Der Transfer hat uns Yen 21.000, etwa Euro 145 gekostet.
Auf geht’s nach Kanazawa. Dort kommen wir gerade noch bei letzter Helligkeit vor 17:00 Uhr an. Wir übernachten in einem neuen Hotel Sai-no-niwa, einer Mischung aus japanischem Ryokan und Designhotel. Mit dem Hoteleigenen Shuttlebus lassen wir uns in einer zehnminütigen Fahrt zum Bahnhof Kanazawa bringen. Wir landen auf Empfehlung einer Hotelmitarbeiterin in einer blitzsauberen Izakaya, genießen deren Sake und verschiedene Kleinigkeiten.
Es ist schön, wieder auf der Erde zu sein. Ohne die vielen Menschen mit ihren Masken, diesen steilen Treppen, die rasenden Tunnel-Busse sowie die Gondel- und Seilbahnen. Die Tour zum Kurobe Damm können wir empfehlen.
Der Schlaf nach der Kurobe Strapaze in Kanazawa ist tief und lang.