Verdrängte der Homo Sapiens den Neandertaler oder
existierten Neandertaler und Homo Sapiens zur gleichen Zeit?

Der Frage wollten wir zusammen mit Prof, Kazuma Yamane (71) auf den Grund gehen. Dabei stießen wir in Japan am Suigetsu See in Mikata, weit weg von jeder bedeutenden japanischen Großstadt, auf Antworten. Außerdem wurden wir überrascht, als wir dort über 70.000 Jahre exakt in die vier Jahreszeiten eines jeden Jahres mit Vegetation und Temperatur eintauchen und damit Rückschlüsse auf Klimaveränderungen damals und in Zukunft ziehen konnten.

Ausgerechnet in Japan, im kleinen nur 4 qkm großen Suigetsu See soll es auf die Frage nach dem Neandertaler und Homo Sapiens eine Antwort geben. Also fuhren wir zusammen mit Professor Kazuma Yamane in die Fukui Präfektur in das kleine Städtchen Mikata um dort 70.000 Jahre in die Vergangenheit zurückzukehren.

Professor Kazuma Yamane (Dokkyo Universität) ist ein ziemlich umtriebiger Mann. Er hat in Japan unzählige aufsehenerregende Sachbücher (unter anderem über die kosmische Reise mit Hayabusa 2 aus der japanischen Asteroiden-Forschung) geschrieben, ist Direktor der Agentur für Luft- und Raumfahrt (JAXA), Gastprofessor und Berater des privaten Forschungsinstituts RIKEN, Kulturberater der Präfektur Fukui, war wissenschaftlicher Kommentator im japanischen NHK TV Programm und Vieles mehr. Nebenbei initiiert und organisiert er persönlich Projekte um die Not der Menschen nach Naturkatastrophen in Japan zu lindern. Wir konnten ihn mit der „Help Japan“ Aktion ein wenig unterstützen und ihn dabei näher kennenlernen. Wir stellten dann auch noch fest, dass er zusammen mit Miye bei den olympischen Winterspielen 1972 in Sapporo als Olympia-Host für deutschsprechende Olympiateilnehmer und Besucher tätig gewesen war. Welch ein Zufall.

Im Rahmen seiner Beratertätigkeit für die Präfektur Fukui ist Professor Yamane auch Chairman des weltweit einmaligen „Lake Suigetsu Varve Museums“ in Mikata. Die dafür zugrundeliegenden Wunder wollte er uns im November demonstrieren. Er wollte uns erklären, warum ausgerechnet in der Präfektur Fukui die perfekte, lückenlose Reise in Japans 70.000 Jahre Vergangenheit ermöglicht wird. Warum dort der Schlüssel auf die Frage nach dem Leben von Neandertalern und Homo Sapiens liegt und warum dort auch eine Antwort auf Klimaveränderungen im 21. Jahrhundert zu finden ist. Das alles liegt am kleinen Suigetsu See. Den Jahresstreifen in den Sedimenten des Sees, vergleichbar mit den Jahresringen von Bäumen.

Das Varve Museum

Im JOMON Museum in Mikata werden Artefakte der japanischen Urbevölkerung aus der sogenannten JOMON Zeit (etwa 14.000 bis 300 v.Chr.) gezeigt. Direkt daneben, auf einer Wiese hin zu einem kleinen, ruhig fließenden Fluss erstreckt sich ein sehr modernes, zweigeschossiges, langgezogenes Gebäude mit zwei weiteren Nebengebäuden. Das „Lake Suigetsu Varve Museum“. Helles Holz, viel Glas, viel Licht. Das Museum wurde gerade erst am 15. September 2018 eingeweiht. Bereits einen Monat später besuchte der japanische Kronprinz Naruhito, der im kommenden Jahr japanischer Kaiser werden wird, dieses Museum. Es muss also etwas Besonderes sein.

In Sichtweite der beiden Museen wurden Muschelhügel aus der Jomon Zeit gefunden. Bei weiteren Ausgrabungen kam den Wissenschaftlern die Idee, doch einmal in den nahegelegenen Seen nach weiteren Artefakten zu suchen. So stieß man bei Bohrungen auf das Wunder des Suigetsu Sees – eigentlich ein Bei-Produkt der Jomon Forschung.

Der Einführungsfilm

Ein Einführungsfilm erklärt eines der Wunder der ganz in der Nähe gelegenen fünf Seen (Kugushi, Hiruga, Mikata, Suga und Suigetsu). Der Suigetsu See mit einer Fläche von 4 qkm und einer Tiefe von 34 Metern ist der größte See. Diese kleine Seenplatte liegt eingebettet in den „Wakasa Bay Quasi Nationalpark“, nur durch eine paar hohe Berge getrennt von der japanischen See.

Hier herrscht eine in Japan sonst kaum wiederzufindende Ruhe. Es gibt keine großen wassereinführenden Flüsse, die Sedimente können sich am Boden in Ruhe absetzen. Durch umliegende hohe Berge, vor starken Winden geschützt, kann es keinen hohen Wellenschlag geben, der den klaren Aufbau der Boden-Sedimente beeinträchtigt. Die Ruhe des Wassers lässt nicht zu, dass sich am Boden Sauerstoff bildet, Lebewesen können sich dort nicht aufhalten. Die Sedimente bleiben unberührt.  Normalerweise setzen sich in Seen über die Zeit jede Menge Sand und Erde ab. Durch die einmaligen Bedingungen am Suigetsu See hat sich der See über die Jahrtausende nicht stark aufgefüllt, sodass sich die Sedimente am Seeboden in ihren sich abgrenzenden Jahresstreifen entwickeln konnten. Ideale Konditionen, ohne äußere Einflüsse.

Über die Jahrtausende hinweg konnten so ungestört organische Materialien wie Blätter und Pollen sowie mineralische Materialien wie Vulkanaschen und Wüstensand, auf den Boden des Suigetsu Sees absinken. Es konnten sich feinste Sediments-Streifen oder Jahresstreifen ähnlich wie die Jahresringe bei Bäumen bilden. Schon bekannt ist, dass uns die Jahresringe Auskunft über besondere Sonneneinstrahlungen, Regen-, Kälte-, Trockenperioden sowie Insektenbefall geben. So verhält sich das auch mit den Sedimentsstreifen. Der englische Ausdruck dafür ist Varves, diese Varves sind ein Geschichtsbuch der Natur. Ein echtes und einmaliges Wunder für die Wissenschaft.

Bohrungen im Suigetsu See

Prof. Takeshi Nakagawa, Direktor des japanischen Forschungs-Zentrums für Paläoklimatologie (historische Erd-Klimaveränderungen) hat in der Mitte des Suigetsu Sees Bohrungen durchgeführt und bis zu einer Tiefe von 95 Metern in Bohrkernen Sedimente gesammelt. Sie repräsentieren etwa einen Zeitraum von 200.000 Jahren. Es dauerte vier Jahre bis ein Wissenschaftler von Universität Oxford die einzelnen Sedimentstreifen (Varves) ausgezählt und die fossilen Blätter, Pollen und Plankton mit der Radiokarbon Methode C14 analysieren konnte. Dadurch konnte je Varve, d.h. je Jahresstreifen, zwei Grundlagen für wissenschaftliche Betrachtungen bestimmt werden:
1. Jedem Varve kann das entsprechende Jahr mit seinen vier Jahreszeiten zugeordnet werden – und das 70.000 Jahre zurückliegend. Pro 10.000 Jahre gibt es lediglich eine Fehlerrate von plus/minus 29 Jahren. Vegetation, Klima und Umwelteinflüsse sind damit eindeutig den zurückliegenden Jahren zuzuordnen.
2. Durch C14 Karbon Messung der in den Varves vorgefundenen organischen Materialien und der Zuordnung zum Entstehungsjahr ist erst jetzt eine ziemlich genaue Kalibrierung von organischem Material und dessen Entstehungsjahr für C14 Messungen möglich.

Dadurch konnte die Zeitbestimmung für die weltweite Archäologie und Geologie an Genauigkeit deutlich erhöht werden. Ein einmaliger Vorgang. 2013 wurde die internationale C14 Radiokarbon Kalibrierungskurve IntCal13 auf der Basis der Daten aus dem Suigetsu See in Verbindung mit Daten von anderen Orten veröffentlicht. IntCal13 ist zum neuesten Weltstandard für die Zeitbestimmung für C14 Radiokarbon-Kalibrierungen geworden. Bis dahin wurden zu C14 Kalibrierungen Jahresringe im Grönland Eis und alter Bäume, Stalagmiten in einer Kalkstein Höhle in China, Varves in einem Eifler Maar, dem Cariaco Becken in Venezuela, in Monticchio in Italien und anderen Orten auf der Welt herangezogen. Allerdings konnten mit diesen Methoden Materialien, die über 13.000 Jahre alt waren, nicht weiter bestimmt werden. Außerdem wiesen sie Fehlerraten von mehreren hundert Jahren auf. Durch die Ergebnisse und Zuordnungen im Suigetsu See sind die Zeitangaben jetzt allerdings sehr präzise zu bestimmen.

Durch die Analyse der Varves, und deren exakte Jahres Zuordnung über einen Zeitraum von 70.000 Jahren, konnte die natürliche Umwelt in den jeweiligen Jahreszeiten und Jahren mit Luft- und Wassertemperaturen, Vegetation, vulkanischen Aktivitäten, Klimaveränderung, Tsunamis und Überflutungen in Japan bestimmt werden. Ein weltweit einmaliger Vorgang. Daraus lassen sich Klimaveränderungen über diesen langen Zeitraum bestätigen und Rückschlüsse auf zukünftige Klima-Veränderungen ziehen. Alles das ist in den Varves enthalten, eine genaue Aufzeichnung aller Natur-Vorkommen in den vergangenen 70.000 Jahren.

Die Varves – eine Messlatte vergleichbar mit den Jahresringen eines Baumes

Die Überraschung hängt in der ersten Etage des Museums auf beiden Seiten einer 45 Meter langen Wand. Lückenlos werden in Dreierreihen untereinander versetzt jeweils etwa ein Meter lange, plastifizierte, wenige Millimeter dicke Streifen aus den ehemaligen Bohrkernen mit einem Durchmesser von 10 cm gezeigt. Die Varves in den Stärken von 0,6 bis 0,7 cm repräsentieren jeweils ein Jahr. Sie sind teilweise dunkelgrau, schwarz oder hell, vergleichbar mit einem Barcode in unterschiedlichsten Farbschattierungen. Die dunklen Streifen enthalten mehr organisches, die hellen Streifen mehr mineralisches Material. Manchmal sind die Streifen auch dicker als 0,7 cm und gelblich. Das ist dann gelber Sand vom chinesischen Festland, herüber geweht mit späten Herbst und Winterstürmen. Oder es handelt sich um Vulkanaschen von Vulkanausbrüchen des Sakurajima im südlichen Kyushu. Auch das kann lückenlos über 70.000 Jahre analysiert werden. An einem TV Gerät konnten wir zum Beispiel die Jahreszahl Null, d.h. Christi Geburt, einstellen und in dem dazugehörenden Film sehen wie die Vegetation in den vier Jahreszeiten im Jahr von Christi Geburt am Suigetsu See ausgesehen hat. Übrigens mit einer Fehlerrate von 29 Jahren pro 10.000 Jahren!

Was können wir von den Varves lernen?

Da jetzt 70.000 Jahre rückliegend Sedimente mit fossilen Blättern und Pollen vorliegen, können daraus nicht nur Rückschlüsse auf die damalige Vegetation um den See herum, sondern auch auf das Klima und das Umfeld gezogen werden. Es entsteht ein deutliches Bild über die Umfeld-Konditionen in den einzelnen zurückliegenden Jahren. Ein paar Beispiele:

Vor 30.000 Jahren war der See von Wiesen und niedrigen Bäumen umgeben, die nur in einem kalten und trockenen Klima wachsen. Nach Beendigung der sich daran anschließenden Eiszeit konnten dann größere Bäume rund um den See wachsen. Das lässt sich in den fossilen Blättern in den Varves ablesen.

Vor 12.000 Jahren, nach einer Periode von unstabilen Wetter- und Klimasituationen, erwärmte sich das Klima langsam, Wälder konnten sich ausbreiten. Die Vorfahren der heutigen Japaner aus der Jomon Zeit, konnten sich am See niederlassen.

Gehen wir 12.000 bis 5.700 Jahre zurück, lassen die Varves den Rückschluss darauf zu, dass Kamelien- und Zedernbäume um den See herum wuchsen. Fossilien von Nüssen und verschiedener Fische lassen darauf schließen, dass es sich um eine Zeit handelte, in der Menschen hier in angenehmen Klima siedelten und mehr als genügend Nahrung vorfanden.

Gleichzeitig hat sich gelber Sand vom chinesischen Festland abgelagert, auch  Asche des Vulkans von Kyushu. Eruptionen können auf das genaue Jahr bestimmt werden. Gleichzeitig können wegen der unterschiedlichen Dicke und Färbung der Sedimente Rückschlüsse auf starke Erdbeben und Überflutungen gezogen werden. Sand und Erde von der Gegend um den See wurden dann in den See gespült und formten unterschiedliche Dicken der Varves.  Dabei wurden 12 verschiedene Varves identifiziert, die auf schwere Erdbeben in den vergangenen 30.000 Jahren schließen lassen. Hieraus werden die Forscher Voraussagen über zukünftige Katastrophen treffen können. Detaillierteste Arbeiten eines weltweit arbeitenden, internationalen Forscherteams.

Die Radiokarbon Methode

Nur sehr kurz zur Erklärung: Karbon 14 (C14) wird in der Atmosphäre produziert und von Pflanzen durch Photosynthese absorbiert. Dann durch die Nahrungskette auf Tiere und Menschen übertragen. In allen Fossilien, Knochen und anderen organischen Überbleibseln aus der Vergangenheit ist also Karbon 14 (C14) enthalten. Nach dem Absterben von Pflanzen und dem Tod von Tieren und Menschen verringert sich der C14 Gehalt in den Überresten kontinuierlich. Es wird nämlich kein neues C14 mehr nachgeführt. Da der Halbzeitwert von C14 bei 5.730 Jahren (Karbon halbiert sich alle 5,730 Jahre) liegt, kann eine exaktere Datierung entsprechender organischer Materialien bestimmt werden.

Die Konzentration von C14 in der Atmosphäre variiert allerdings von Jahr zu Jahr, denn C14 reagiert empfindlich auf Änderungen des geomagnetischen Feld und auf Sonnen Aktivitäten. Daher ist die exakte Kalibrierung des C14 Gehalts auf ca. 50.000 – 60.000 Jahre eingeschränkt worden.

Die Varves vom Suigetsu See erlauben nun auch Rückschlüsse auf Material, das von Neandertalern und dem Homo Sapiens in der Welt gefunden wurde. Durch Messung des C14 Gehalts und dem Zeit-Vergleich mit den Varves vom Suigetsu See – die dort analysierten organischen Materialien weisen den vergleichbaren C14 Wert auf – kann nun daraus geschlossen werden, dass sich Neandertaler und Homo Sapiens über einen längeren Zeitraum parallel entwickelten und sich sogar vermischt haben. Wir lernten, dass sich, bis auf Menschen aus Afrika, in allen Menschenrassen etwa 2% Neandertaler DNA befindet!

Damit bekamen wir im Varve Museum in Mikata eine Antwort auf unsere Ausgangsfrage ob der Homo Sapiens den Neandertaler vertrieb oder ob Neandertaler und der Homo Sapiens zur gleichen Zeit parallel existierten. Ja, sie taten es.

„Die Vergangenheit ist der Schlüssel für die Gegenwart und Zukunft“(James Hutton, schottischer Geologe im 18. Jahrhundert).

Sein Konzept (Historical Science), ist heute die weltweite Grundlage für die Geologie und Klimaforschung. Wie sich das Klima in den vergangenen 70.000 Jahren verändert hat, dazu können die Varves aus dem Suigetsu See in Mikata an der japanischen Meerseite Auskunft geben. Schlüsse daraus für unsere Gegenwart und Zukunft zu ziehen und die Vorgaben der Wissenschaft  dann auch strikt umzusetzen, das ist Aufgabe für jeden von uns.

Diese Varves vom Suigetsu See tragen heute dazu bei, dass mit der C14 Methode auch Funde aus der Vergangenheit exakten Entstehungszeiten zugeordnet werden können. Das hilft die Geschichte und Kultur unserer Vorfahren besser zu verstehen und die längst untergegangenen Kulturen auch zu würdigen.