Ständige Veränderung, Anpassungen, Aufgabe einer japanischen Idylle
– eine Entdeckung in Yokohama
Jahrelang haben wir in Yokohama im Stadtteil Negishi am Fuße einer etwa 100 Meter hohen früheren Steilküste gewohnt, die sich kilometerlang bis in den Stadtteil Honmoku in Richtung Motomachi hinzieht.
Von der Stelle unserer ehemaligen Wohnung bis hin zum damaligen Cape Honmoku lag ein wunderbarer langer Strand. Die langgezogene Bucht (Negishi Bucht) wurde von den Amerikanern unter Admiral Perry, die hier 1853 einliefen, Mississippi Bay genannt. (benannt nach einem seiner vier Schiffe mit Namen „Mississippi)
Hier sammelten Familien bei Ebbe Muscheln, Fischer zogen mit ihren kleinen Booten große Fänge aus der Bucht. Sie war wegen des ruhigen Wassers idealer Angelplatz vieler Fischsorten, gleichzeitig konnten die Fischer hier „Nori“, (Seetang, zB für die Sushi Rollen) züchten.
Ryokans, japanische Gasthäuser, boten den Strandbesuchern komfortable Unterkünfte mit hervorragendem Essen an.
Die Familien der Amerikaner, die nach dem Krieg oberhalb der Steilküste ihre Wohnungen und militärischen Einrichtungen errichteten, nannten diesen Strandabschnitt „Mississippi Beach“. Noch bis vor ein paar Jahren überlebten einige dieser schönen Ryokans. Heute sind sie abgerissen.
Commodore Perry
Commodore Perry fuhr mit seinen vier schwarzen Dampffregatten im Juli 1853 in den Tokyo Bay ein. Ziel war es Japan zur Öffnung zu zwingen und Anlaufhäfen für amerikanische Walfänger zu schaffen. Außerdem wollten sie mit Japan in den verspäteten Kampf um Kolonien gegen die bisher erfolgreichen Europäer einsteigen.
In den vier Monaten, in denen Perry von See aus das Land erkundete, fuhren einige seiner Beobachtungsschiffe nah an das Cape Honmoku heran, damit einer seiner Matrosen eine geheime Navigationsinformation als unleserliche Botschaft in einen Felsen ritzen konnte.
Den Felsen haben wir erkundet, die Zeichen sind heute von Betonverstärkungen überdeckt.
Katsushika Hokusai und Utagawa Hiroshige – Farbholzschnitte
Die Landschaft am Cape Honmoku war so faszinierend schön, dass sie bedeutende Künstler der Zeit anlockte. Hier an dieser Stelle, wo später die geheime Navigationsinformation in den Felsen geschrieben wurde, fertigte Hokusai Mitte des 19. Jahrhunderts den berühmten Farbholzschnitt „Die große Welle vor Kanagawa“ an.
Etwa zur gleichen Zeit entstand genau hier der berühmte Farbholzschnitt von Utagawa Hiroshige mit dem Felsen vom Cape Honmoku, dem Meer bei Kanagawa und im Hintergrund dem schneebedeckten Fuji-yama. Beide Bilder sowie ihre Erschaffer sind weltberühmt, sie gehören zu Japans großen Kulturerben.
Cape Honmoku – früher das japanische Cap Ferrat der Cote d`Azur
Genau oberhalb dieses Felsens mit der geheimen Inschrift des Matrosen von Perry ließ Kenzo Adachi (1864-1948) im Jahr 1933 seine Villa „Hasseiden“ (Halle der acht Heiligen) bauen. Er war nach der Meji Restoration mehrfach Japans Post- und Innenminister sowie Präsident der „Konstitutionellen Monarchie Partei“. Er muss vermögend gewesen sein, denn das was wir heute als seine Villa sehen ist eine Nachbildung des achteckigen Hauptgebäudes, des Yumedono des Horyuji Temples in Ikaruga, Nara .
Drei Stockwerke hoch. Auf der ersten Etage ließ er, aus seiner Sammlung, von bedeutenden Künstlern seiner Zeit geschaffen, jeweils vier „Heilige“ der Weltgeschichte in Lebensgröße aufstellen – Jesus-Christus, Sokrates, Konfuzius, Buddha sowie vier „Heilige“ des japanischen Buddhismus – Shotoku-Taishi (machte den Buddhismus zur Staatsreligion), Kobo-Daishi (Begründer des japanischen Shingon Buddhismus, Koya-san), Shinran (Stifter der japanischen Amidismus Schule des Jodo-Shinshu Buddhismus) und Nichiren (japanischer buddhistischer Reformator, Gründer des Nichiren Buddhismus).
Das Gebäude steht nicht direkt an der Klippe, es wurde wegen der Stürme und Taifune etwa 100 Meter nach hinten versetzt gebaut.
Der vordere Teil, auf den Klippen war Aussichtspunkt bis hin zum Mount Fuji. Heute erinnern nur noch Tafeln an die Stelle von der Hokusai und Hiroshige ihre Holzschnitte angefertigt haben.
Die Villa „Hasseiden“ ist heute ein Heimatmuseum, hier werden u.a. die alten Fischerboote und Werkzeuge der guten alten Zeit gezeigt.
Früher verkehrte hier Japans High Society, wurden Pläne geschmiedet, zu Kultur und intellektuellem Austausch eingeladen.
Glücklicherweise ist dieser Pinienwald mit dem Gebäude im Krieg nicht zerbombt worden, so dass wir uns heute noch die Zeit vor 80 Jahren zurückversetzen können.
Sankei-en Park, der Nachbar.
Cap Honmuku in westlicher Richtung endet in einem heute mit besseren Häusern bebauten Tal, danach erheben sich wieder bewaldete Steilklippen. Der Nachbar von Kenzo Adachi war Sankei Hara, ein durch das Seidengeschäft enorm vermögender Mann aus Yokohama. Er hat um sein riesiges Wohnhaus einen traumhaften Park geschaffen, den Sankei-en. In diesem Park konnten alte japanische Häuser, Tempel und Brücken aus den verschiedensten Teilen Japans wieder auferstehen.
Eine 5-stöckige Pagode überragt einen großen See mit malerischen Brücken und einer kleinen Trauminsel. Hoch oben auf den Klippen steht ein Haus, von dem der Besucher bis hin zum Fuji-yama und über die lang hingezogene Mississippi Bucht sehen konnte.
Über den Sankei-en gibt es zwei Berichte auf unserer Shoganai.com Seite
Der Park war frei zugänglich für alle Bürger. Hier wurden auch Feste mit den Bürgern gefeiert, feinste Nudelsuppen und andere Gerichte in mehreren kleinen Restaurants angeboten. Herr Hara wollte die Bürger seiner Stadt an seinem Lebenswerk teilhaben lassen.
Heute zählt der Sankei-en zu unseren beliebtesten Ausflugszielen mit dem Rad oder mit dem Auto. Auch jetzt sind wir immer noch begeistert von den hier angebotenen Nudelsuppen ….
Schlugen bis vor 60 Jahren noch die Wellen der Tokyo Bay an diese Steilküste. Fuhren Fischer von hier aus aufs Meer, sonnten sich Menschen an den feinen Sandstränden und badeten im sauberen Meerwasser. Über diese Erinnerungen aus ihren Kindertagen wie sie Muscheln gesammelt und im Wasser gespielt haben, berichteten uns einige der Einheimischen, die wir seit langem kennen.
Von heute auf Morgen war die Idylle Mississippi Bay vorbei.
Japan dachte nach dem Krieg zunächst an Wiederaufbau, danach wurden höhere Ziele angestrebt, die Industrialisierung Japans. Aufstieg zur wirtschaftlichen Supermacht. Bewiesen hat Japan diesen Status mit der Sommer Olympiade in Tokyo 1964 und Expo Osaka 1970.
Das japanische Vorhaben hatte seinen Preis. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts musste Land gewonnen werden, um Platz für Raffinerien, Hafenanlagen, Stahlwerke und Fabriken, für den Aufschwung zu schaffen.
Die von Hokusai und Hiroshige in Bilder umgesetzte einmalige, wunderschöne japanische Landschaft fiel der Industrialisierung zum Opfer.
Vor dem Cap Honmuku und dem Mississippi Bay wurde das Land aufgeschüttet, auf dem heute diese Errungenschaften der Industrialisierung zu bestaunen sind. Unzählige Vorrats-Tanks der Raffinerien mit ihren hohen Schornsteinen, Hafenkräne, die ihre Ausleger hoch in den Himmel strecken. Stahlwerke. Industrie nach allen Seiten, vom Cap Honmoku aus zu besichtigen, soweit das Auge in alle Richtungen reicht.
Die Frage muss unter den Gesichtspunkten und Zielen der 60er Jahre beantwortet werden: Wohlstand für alle, oder Bewahrung der idyllischen Landschaft?
Vom Aussichtspunkt der Villa Hasseiden übersehen wir jetzt die Industrielandschaft. In den vergangenen Jahren ist noch ein weiteres notwendiges Übel dazugekommen. Im Abstand von nur 200 Metern, zwischen der ehemaligen Steilküste und der Industrielandschaft verläuft eine sechsspurige Hochautobahn, in etwa 50 Meter Höhe auf riesigen Stahl- und Betonstelzen, gebaut über einer vielbefahrenen, breiten mehrspurigen Zubringerstraße. Sie zerschneidet die heute ohnehin glanzlose Landschaft noch mehr.
Auch hier stellt sich wieder die Frage: Verkehrsstaus im „Stop and Go“ Tempo, oder Anpassung an den Verkehr, der mit der industriellen Ausdehnung und dem Wachstum von Yokohama in den vergangenen 150 Jahren von 150 Menschen auf heute 3.7 Mio Einwohner über alle Maßen gewachsen ist.
Zugegeben, schön ist das alles nicht.
Wehmütige Rückkehr zur Idylle der Künstler Hokusai, Hiroshige und den vermögenden Herren Sankei Hara und Kenzo Adachi ist nicht mehr möglich. Das ist die heutige Realität. Die Veränderungen und Anpassungen an den sich wandelnden industriellen Fortschritt.
Nichts ist ewig. Nichts bleibt wie es ist. Alles entwickelt sich weiter.
Also: Shoganai. Ob das die Herren Hokusai, Hiroshige, Hara und Adachi auch einfach sagen würden, wenn sie diese „Veränderungen“ sehen könnten?
Natürlich waren weder die dort ansässigen Fischer, noch die Bewohner glücklich über die Veränderungen und Vertreibungen ihrer Heimat, aus ihrem Paradies. Für die entgangenen Badefreuden in der Negishi Bucht wurde ein riesiges Schwimmbad direkt unterhalb von Cap Honmoku, zwischen Steilklippe und der Autobahn errichtet.
Es ist zurzeit in Planungen für einen Neubau als moderne Badelandschaft. Die Fischer wurden finanziell abgefunden, manche haben sich Häuser zur Vermietung gebaut, andere das Geld verlebt oder sind weggezogen. Nur ganz wenige leben heute noch vom Fischfang etwas weiter östlich in der Tokyo Bay.
Ein Shinto Shrine, der auch den Aufschüttungen weichen musste, wurde an anderer Stelle in Betonbauweise wiedererrichtet. Alles kleine Pflaster, die die großen Wunden des Verlusts durch Veränderung, überdecken.
Alles hat seinen Preis: Land für Produktion und Infrastruktur, Häfen für das Industrieland Japan, No. 3 – hinter USA und China, auf der anderen Seite unsere Nostalgie mit dem Verlust einer ehemals idyllischen japanischen Landschaft.