Denke das Undenkbare
24. April 2019 – Acht Jahre nach der Katastrophe
Inspektion im AKW Fukushima Daiichi (No.1)
Teil 1
Unsere kleine Gruppe besteht lediglich aus sieben Personen, dem Chefingenieur Okai-san sowie der Bürochefin des Tokyo Büros von ABLE Co., Ltd, Ms. Chuman, Prof. Kazuo Yamane mit seinem Assistenten Kota Takahashi, Ueda-san, einem ehemaligen hohen Beamten des „Ministry of General Affairs“ sowie von uns, Miye und Frank.
Die Vorbereitung
Zur Vorbereitung unseres Besuchs müssen wir zunächst persönliche Daten an TEPCO (Tokyo Electric Power Company) übermitteln. Dazu gehört auch, dass wir über unseren persönlichen Hintergrund und unser Interesse am Besuch des AKW Fukushima vorab informieren. Anhand eines Informationsblatts in englischer Sprache verstehen wir, dass wir nur mit Typenbezeichnung vorangemeldete Dinge wie eigene Dosimeter, Foto-, Film –Kameras, Notizblock, Stifte, IC-Rekorder mit auf das Gelände nehmen dürfen. Persönliche Gegenstände wie nicht vorher angemeldete Fotoapparate, Tablet PCs, Smart Phones, Handys etc. müssen spätestens am Eingang in einem Schließfach eingeschlossen werden. Am Tag des Besuchs sind langärmelige Hemden, lange Hosen, flache, einfach aus- und anziehbare Schuhe Pflicht. In unserer kleinen Gruppe ist es nur Yamane-san oder seinem Assistenten gestattet Fotos zu machen. Aufnahmen von Schutzzäunen und Sicherheits-einrichtungen von Nuklearmaterial, Eingängen und Toren dürfen nicht, auch nicht als Hintergrund eines Fotos, aufgenommen werden. Das Gleiche gilt für Nahaufnahmen von Personen mit persönlichen Namens- und Firmenschildern sowie Autokennzeichen.
Jedes geschossene Foto bedarf anschließend einer Begutachtung und Freigabe durch die Sicherheitsbeauftragten von TEPCO. Das fühlt sich geheimnisvoll an. Wir beschließen die Hinweise strikt zu beachten.
Wichtig ist auch am Tag des Besuchs einen gültigen Reisepass vorlegen zu können, ohne den wird der Zugang nicht gestattet. Diese offiziellen Informationen vorab erhöhen natürlich unsere Spannung, aber sie beängstigen auch gleichzeitig. Wir werden nur acht Jahre nach dem GAU radioaktiv „verseuchten“ Boden betreten, da sind Vorsichtsmaßnahmen doch sicherlich angebracht. Auf unsere besorgte Frage, ob wir vorab Jodtabletten einnehmen sollten, kam die Antwort, dass dies nicht nötig sei, denn wir würden uns keiner übermäßigen Strahlenbelastung aussetzen. Unsere Frage stieß eigentlich auf Unverständnis. Aber immer noch beeinflusste uns die Information der Deutschen Botschaft nach dem Reaktorunfall im März 2011 zur Vermeidung gesundheitlicher Schäden durch Strahlenbelastungen sollten wir uns bei einem bestimmten Arzt in Tokyo mit Jodtabletten versorgen. Da können wir doch mal sehen, wie solche Informationen auch acht Jahre später noch unseren direkten Kontakt mit dem Fukushima Kraftwerk beeinflussen. Zu dem Zeitpunkt unserer Vorbereitungen im März 2019 wissen wir nicht genau was uns im Fukushima Daiichi erwarten wird. Trotz einiger Bedenken, die hauptsächlich von außen an uns herangetragen werden, wollen wir mit eigenen Augen sehen, was zwischenzeitlich dort passiert ist.
Ohne eine Einladung von Prof. Kazuma Yamane und der starken Unterstützung der Geschäftsleitung von ABLE Co., Ltd., Hirono in der japanischen Präfektur Fukushima wäre unser Besuch am 24. April 2019 im Kraftwerk Fukushima Daiichi (No. 1) nicht zustande gekommen. So sitzen wir jetzt in zwei Autos von ABLE und fahren voller Erwartungen zunächst 10 km auf der Nationalstraße 6 zum TEPCO Decommissioning Archive.
Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi (No. 1 ) in Futaba ist von Hirono (ABLE Fabrik) aus nur 20 km entfernt. Etwa in der Mitte, wo es von der Nationalstraße 6 rechts ab zum AKW Fukushima Daini (No. 2) geht, liegt das Decommissioning Archive. No. 2 steht, wie das Daiichi auch, auch direkt am Pazifischen Ozean. Das AKW Daini wurde während des Erdbebens und Tsunami am 11. März 2011 zwar auch getroffen, allerdings sprang hier die Notstromversorgung an, so dass es dort nicht zu einem vergleichbaren GAU wie im AKW Daiichi gekommen ist.
Das Decommissioning Archive Center
An der Kreuzung zum AKW No. 2 in der kleinen Stadt Tomioka machen uns drei miteinander verbundene, so gar nicht in die japanische Landschaft passende Häuser, neugierig. Es sind Nachbildungen der Geburtshäuser von Albert Einstein, Marie Curie und Thomas Alva Edison. In diesen Häusern war das ehemalige PR Zentrum des AKW Fukushima No.2 untergebracht. Hier wurde über die friedliche Nutzung von Atomkraft informiert, daher die Nachbildung der Geburtshäuser in Anlehnung an die drei herausragenden Wissenschaftler / Erfinder/ Unternehmer. Seit Juli 2018 ist hier das „TEPCO Decommissioning Archive Center“ untergebracht. Aufwändig wird dort über das Unglück vom 11. März 2011 und den aktuellen Stand der Aufräumarbeiten informiert.
Am Eingang zum Archiv Zentrum empfängt uns der Chef des Zentrums, die stellvertretende Pressechefin von TEPCO in Tokyo sowie verschiedene Assistenten. Mit einem so großen Bahnhof haben wir nicht gerechnet, wir schreiben dies der Bekanntheit von Prof. Yamane und Ueda-san zu. In einem Vorbereitungssaal auf der ersten Etage wird uns zunächst auf einer riesigen Leinwand das Video aus dem Kontrollzentrum des Daiichi Kraftwerks vom 11. März 2011 gezeigt. Es ist die Originalaufzeichnung einer Kamera im Kontrollraum: 14:46: ein heftiges Erdbeben erschüttert den Kontrollraum. Verschiedene TEPCO Mitarbeiter sitzen ruhig an ihren Schreibtischen. Einer von ihnen hält wegen der Erschütterungen den Bildschirm seines PCs fest, ein dicker Stapel Papiere rutscht langsam seitwärts vom Tisch. Das Erdbeben hält an, ungläubig stehen weitere Techniker von ihren Tischen auf und beginnen mit einem einstudierten Check der Kontrollinstrumente an der weiten Kontrollwand. Sie zeigen mit ihren Zeigefingern kontrollierend und sich vergewissernd auf verschiedene Kontrollleuchten. Soweit scheint alles in Ordnung zu sein, bis nach einer kurzen Zeit der Strom ausfällt, kurzfristig wieder anspringt. Doch nach und nach verlöschen die Kontrollleuchten, im Licht von Taschenlampen wird versucht nach Ablaufplan weiterzuarbeiten….
Dann ist das Video zu Ende!
Stille im Saal, niemand spricht. Wir starren immer noch gebannt auf die übergroße, leere Leinwand. Ein kurzer Seitenblick auf die anderen Teilnehmer, das Video hat wohl jeden von uns erschüttert. Da in der Aufzeichnung alles so ruhig abläuft, scheint es so zu sein, als ob im AKW alles weiterhin unter Kontrolle wäre. Doch nachträglich wissen wir, das größte atomare Unglück in Japan nahm in diesem Moment seinen bekannten Lauf. Und wir erleben seinen Beginn noch einmal hautnah mit. Unsere Stille ist auch ungläubiger Ausdruck unserer Betroffenheit. Was da gerade im Kontrollraum aufgezeichnet wurde ist mit all dem Wissen heute unfassbar. Hilflosigkeit. Alles hat versagt, der schlimmste Ernstfall nach dem Erdbeben und Tsunami ist gerade eingetreten. Die Natur hat erbarmungslos, in einer unerwarteten Stärke und Härte zugeschlagen.
In einem Sekundenbruchteil ziehen noch einmal die Bilder der Horror-Nachrichten im TV vom 11. März 2011 und danach an uns vorüber. Das explodierende Kraftwerk.
Das Licht im Vorführsaal wird wieder angeschaltet. Nach dem Moment der Betroffenheit hat die Routine uns wieder in die Gegenwart geholt. Unsere Ausweise bzw. Reisepass werden eingesammelt, die Daten werden in umfangreiche Papiere übertragen, die uns den Zugang zum Kraftwerk erst ermöglichen.
Dann beginnt der Rundgang durch das „Decommissioning Archive“. Auf Bildschirmen wird über das Ausmaß der Reaktor-Katastrophe und den Fortgang der Aufräumarbeiten sowie der Strahlungsintensität, damals und heute, informiert. Wir sehen u.a. unterschiedliche Schutzbekleidungen für drei verschiedene Zonen auf dem Reaktorgelände:
R (Red)-Zone „Anorak Area“ hoch belastet rings um die Reaktoren 1 – 4. Wer hier längere Zeit arbeitet muss eine volle Gesichtsmaske mit Atemschutz und einen doppelt geschützten Overall tragen.
Y-Zone (Yellow) – Zone „Cover All Area“, hier kann eine volle oder halbe Gesichtsmaske und ein einfacher Overall getragen werden.
G-Zone(Green) „General or Non-Wearing Area“, das sind heute bereits unglaubliche 96% des gesamten Kraftwerksgeländes. Auch eine Fahrt um die havarierten Reaktorgebäude 1 bis 3 sowie um das Gebäude des Reaktors 4 (nicht zerstört) gehört heute bereits zur G-Zone. Dort soll es reichen eine „Einmal Maske“, generelle Arbeitskleidung, oder gar einfach unsere normale Kleidung – ohne weitere Schutzmaßnahmen zu tragen. Wir sind zwar vom hier
gezeigten Fortschritt in den vergangenen 8 Jahren tief beeindruckt, dennoch denken wir noch immer, dass wir im AKW einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt und deshalb spezielle Kleidung tragen werden.
Wir lernen hier, dass heute im Daiichi AKW jeden Tag 4.000 Leute arbeiten, zu Hochzeiten sollen es täglich sogar 8.000 Menschen gewesen sein. Das können wir uns nicht richtig vorstellen. Woran arbeiten diese vielen Menschen? Welcher Strahlenbelastung sind sie ausgesetzt?
Eigentlich könnten wir im „Decommissioning Archive“ den ganzen Tag verbringen, es gibt so viele Details zu entdecken, doch innerlich drängt alles darauf endlich zur Standort-Inspektion auf das Kraftwerksgelände zu kommen. Mit eigenen Augen zu sehen wie es dort aussieht. Was ist seit dem 11. März 2011 passiert? Hat TEPCO die von den Reaktoren 1 bis 3 ausgehenden radioaktiven Gefahren im Griff? Was macht man mit dem „radioaktiv-verseuchten“ Kühlwasser? Wohin mit dem Wasser und der kontaminierten Erde? Wie lange wird es dauern bis das Kraftwerk abgebaut ist und dort gefahrlos wieder gearbeitet werden kann? Wird man dort wieder ein Kraftwerk aufbauen? Alles Fragen, die wir im Vorfeld unserer Inspektionsreise aufgeworfen haben, und auf die wir jetzt endlich aus erster Hand eine Antwort bekommen möchten. Nach außen sind wir abwartend ruhig, doch innerlich wächst die Anspannung. Warnungen vor möglichen Gefahren steigen immer wieder mal aus dem Unterbewusstsein hoch und werden doch im nächsten Augenblich wieder durch
Neugier und Wissensdrang verdrängt.
Bewaffnet mit vielem Infomaterial in japanischer und englischer Sprache fahren wir alle zusammen mit einem Bus von TEPCO vom „Decommissioning Archive“ über die Nationalstraße 6 die restlichen 10 km zum AKW. Der Bus ist auf dem Boden mit dunklem Plastikmaterial abgeklebt, ebenso die Handgriffe an den Vordersitzen, auch die Arm- und Fensterlehnen. Warum? Damit ist, wie wir aus den Gesprächen lernen, der Bus bei einer eventuellen Kontamination leichter zu reinigen.
Okuma und die Nationalstraße 6
Nur die Nationalstraße 6 ist befahrbar. Rechts und links der Straße sind einmündende kleinere Straßen und Wege mit Barrieren gesperrt. Die Natur hat sich die ehemaligen Reisfelder und Gärten der Häuser und Dörfer zurückerobert. Gestrüpp wo bis zum März 2011 landwirtschaftliches Leben vorherrschte. Wir kommen an einem Gebrauchtwagen Händler vorbei. Auf dem Hof zur Straße stehen noch Autos mit den Preisschildern hinter den Windschutzscheiben von 2011. Das ist unwirklich. Das Bild gerade des Gebrauchtwagenhandels bleibt im Kopf hängen. Leider können wir unsere iPhone Kameras nicht so schnell zücken, um diesen Eindruck festzuhalten
Wir sehen eine demontierte, ehemalige Tankstelle, eine Kumon Schule, jetzt hindern Sperrschilder und behördliche Absperrbänder vor einem Betreten.
Das Leben war hier 2011 von einem Moment auf den anderen vorbei. Kurzfristige Evakuierung. Die Häuser sehen zwar so aus, als ob dort noch Leben wäre. Aber, die Menschen, die dort einmal ihre Heimat hatten, sind längst umgezogen, sie haben sich mit ihren herangewachsenen Kindern im Lauf der vergangenen 8 Jahre ein neues Umfeld außerhalb der Sperrzone geschaffen. Der Chefingenieur Okai von ABLE hat hier auch ganz in der Nähe gewohnt. Sein Haus war bis zum Unglück gerade einmal 10 Jahre alt gewesen. Jetzt leben er und seine Familie woanders, seine Kinder haben sich neuen Freunden angeschlossen, ob sie jemals zurückkehren werden. Seitdem kurze Besuche erlaubt wurden, ging Okai-san von ABLE hin und wieder dorthin, um sein Haus zu in Schuss zu halten. Vor 3 Jahren hat er es aufgegeben, seine Familie wird nicht zurückkehren.
Um weiteren Abraum aus dem AKW zwischenlagern zu können sollen rechts der Straße zum Daiichi neue Lagerstätten entwickelt werden. Das bedeutet mehr Verkehr. Dazu muss die Infrastruktur mit weiteren Straßen und Brücken erst noch im Laufe der kommenden Monate und Jahre geschaffen werden.
Doch wo Schatten ist, ist auch Licht. Tomioka wurde erst im vergangenen Jahr wieder zur Besiedlung freigegeben. Rechts der Straße in Okuma ist sogar ein neues Dorf entstanden. Moderne eingeschossige Gebäude mit ihren dunklen Dächern locken Rückkehrer an.
An dieser Stelle wurde die gesamte kontaminierte Erde bereits weiträumig abgetragen, die radioaktive Strahlung dadurch vermindert. Stetig sind die mSv (Milli Sievert) Werte durch das Abtragen der kontaminierten Erde zurückgegangen. Normalität kehrt langsam wieder zurück. Nach dem Tsunami lag die Strahlenbelastung noch bei bis zu 50 mSV, ging dann unter 10 mSV, und liegt heute meist bei 1.877 mSV.
Aber, nur 14% der ehemaligen Bewohner möchten gerne zurückkommen, wohingegen 55% hier nicht wieder siedeln möchten. Im kommenden Frühjahr soll auch die vom Tsunami zerstörte JOBAN S-Bahn Linie wieder in Betrieb genommen werden und soll dann zur Normalisierung der Lebensverhältnisse beitragen. Bis die Erde überall abgetragen ist und die Bewohner auch an anderen Orten wieder ungeschützt leben können, wird es wohl noch Jahre dauern. Laufend wird neues Gelände freigegeben. Uns kommen hunderte von LKWs entgegen, beladen mit Erde und Abfällen aus dem AKW. An jedem Tag sollen es ca. 3.000 sein. Einige tragen eine grüne Hinweisfahne vor dem Kühlergrill. Das sind Fahrzeuge, die radioaktives Material geladen haben und zu einer speziellen TEPCO Verbrennungsanlage bei Okuma am Pazifik fahren.
Im japanischen TV sahen wir vor unserer Abreise eine rührende Reportage.
Um die gesperrten, umliegenden Dörfer nicht gänzlich dem Verfall preiszugeben und eine „Willkommens-Kultur“ für spätere Heimkehrer zu schaffen, hat sich eine kleine Aufräum-Mannschaft von 6 älteren Herren über 60zig gebildet. Sie befahren die Dörfer, befreien Wassergräben von alten Ästen, die den Wasserabfluss hemmen, schneiden überhängendes Gestrüpp ab und beseitigen Schnittgrün. Für den Fall, dass diese Gegend wieder freigegeben werden sollte, möchten sie, dass die Heimkehrwilligen keinen Schock erleiden.
Die ungehemmte Übernahme ihrer Häuser und Straßen, ihrer Heimat, durch die Natur würde es dann noch schwieriger machen sich für die Rückkehr zu entscheiden. Sie möchten durch die Pflege insbesondere der vielen Kirschbäume in dieser Gegend eine „Willkommen zu Hause“ Atmosphäre schaffen. Jetzt wurde die Mannschaft in einer gefühlvollen Zeremonie verjüngt. Die nächste Generation soll die weiteren Aufräumarbeiten durchführen. So etwas gibt es wohl nur in Japan. Zumal die Erde nur da abgetragen werden soll, wo die Kontaminierung durch Radioaktivität nicht zu hoch ist, und damit Aussicht auf Rückkehrer besteht. Unklar ist uns geblieben was der Staat den Bürgern versprochen und in Bezug auf die Aufräumarbeiten bisher gehalten hat.
Im Straßenbau an der Nationalstraße 6 sehen wir vom Bus aus Leute in weißen Ganz-körper-Overalls mit „Einmal Masken“ im Straßenbau arbeiten.
Unsere Frage: was wird uns heute noch im AKW Fukushima Daiichi erwarten? Unsere Anspannung steigt.