Tag Eins auf dem Weg nach Hagi

In unserem Freundeskreis kennt vielleicht niemand den Ort Hagi in der westlichsten japanischen Präfektur Yamaguchi. Wir bisher auch nicht, vielleicht wollen wir gerade aus diesem Grund unsere West Japan Reise dort beginnen, die uns über Izumo, den Ort der Mythen und Götter und über Tamatsukuri Onsen bei Matsue zu unserem eigentlichen Ziel, der hölzernen fünf Bogenbrücke Kintaikyo in Iwakuni führt.

Der Flug von Haneda nach Yamaguchi-Ube dauert nur eine Stunde und vierzig Minuten. Etwas weiter westlich von Ube beginnt schon Kyushu, die westlichste der vier größten Inseln Japans, nur durch die Kanmon Kaikyo Wasserstraße von der Hauptinsel Honshu getrennt. In östlicher Richtung kämen wir nach Hiroshima. Der Flughafen liegt an der weiten Suonada Bucht am Pazifik, großflächig eingebettet zwischen Honshu und Kyushu.

Auf dem Weg mit dem Leihwagen vom Flughafen nach Hagi, befahren wir die Straße 191 an der japanischen Meerseite. Hier scheint der Verkehr, verglichen mit den überfüllten Autobahnen und Straßen im Bereich Tokyo/Yokohama, zum Erliegen gekommen sein. Wir sind in einer anderen japanischen Wirklichkeit angekommen. Stressfreies Autofahren ohne ausländische Automarken und ohne erkennbare westliche Ausländer.

Auf dem Weg wollen wir die Rurikoji-Tempel-Pagode besichtigen. Sie ist eine der drei berühmten Pagoden Japans – neben den Pagoden am Daigoji Tempel in Kyoto und dem Horyuji Tempel in Nara. Oh je, bei unserer Ankunft ist die Pagode hinter bemalten Planen wegen Restaurierungsarbeiten in den kommenden Jahren versteckt.

Shoganai, dann auf zum nächsten Highlight:
die Tsunoshima Ohashi, eine Autobrücke, bei Shimoniseki. Sie wurde erst im Jahr 2000 eröffnet und ist mit 1.780 Metern die kostenlos zu befahrende, längste Brücke Japans, die das Festland mit einer Insel verbindet. In weitem Bogen schwingt sie sich über das sonst blaue Meer auf die kleine Insel Tsunoshima mit dem ältesten Leuchtturm an der japanischen Meerseite. In japanischen Werbespots taucht die Tsunoshima Ohashi immer wieder im Hintergrund auf und vermittelt das Gefühl von Fernweh und Freiheitsromantik. Dieses Gefühl wollen wir unbedingt nachvollziehen. Der Ausblick von erhöhter Stelle enttäuscht nicht, das Meer könnte am heutigen Tag nur blauer sein, aber das liegt am bedeckten Himmel. Wir finden, es ist eine Entschädigung für die verpackte Pagode am Rurikoji-Tempel. Das erwartete Gefühl von Freiheit und Fernweh kann sich allerdings nicht einstellen.

In Hagi angekommen suchen wir das Resort Hotel Mihagi auf, um die Schlüssel für das vorbestellte frühere Haus eines Samurai abzuholen. Eine kurze Einweisung mit Schlüsselübergabe, ab jetzt sind wir für die kommenden zwei Nächte uns selbst überlassen.

Zum Haus gelangen wir über einen weiten Busparkplatz, allerdings wird der in der Zeit, die wir in Hagi sind, von keinem Bus belegt. Dahinter eröffnet sich ein neu errichteter Parkplatz für 10 Pkws. In den zwei Tagen sind wir mit unserem Leihwagen allerdings auch hier die einzigen Nutzer – wir haben mit viel mehr Besuchern gerechnet, denn es ist Höhepunkt der Kirschblütenzeit in Hagi. Und endlich eröffnet sich hinter einem nagelneuen, blickdichten Holzzaun das Grundstück mit dem komplett restaurierten Haus des Samurais. Im Garten streckt uns ein Sommermandarinenbaum seine frischen, orangegelben Früchte entgegen. Vor den bodentiefen Schiebefenstern eines der beiden Wohnzimmer lässt ein japanischer Garten von alten Zeiten träumen. Das einladende Bad und die Toilette sind groß, die Badewanne aus japanischem Zypressenholz verbreitet seinen Hinoki-Duft im gesamten Haus, das mit 4 bis 6 Personen bewohnt werden könnte. Im Schlafzimmer gemütliche, breite europäische Betten, in den Wohnzimmern wäre auf den Tatamiböden genügend Platz für die Futons weiterer Übernachtungsgäste. Schnell ist das große Haus von uns in Beschlag genommen und wir können beginnen die Umgebung zu erkunden. Hinter dem Grundstück erstreckt sich Hagi Joka-Machi, das grün eingewachsene, schachbrettartige ohnviertel, wo bis zur Meji Restoration 1868 die Samurai Familien des Fürsten Mori wohnten. Heute ist das Weltkulturerbe. Hier stehen, hinter mannshohen Mauern, Häuser in Gartenanlagen von zum Teil ehemals einflussreichen und in Japan bekannten Männern, für drei Tage unsere Nachbarn. Sie haben in der Zeit des Morgenaufbruchs Japans, Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Übergang von der Herrschaft der Tokugawa Shogune und Fürstentümer zum Kaiserreich, wertvolle Dienste für die Modernisierung Japans geleistet und als Ministerpräsidenten oder Minister gedient. Warum stammen solche Männer gerade in der Vielzahl wohl aus Yamaguchi und Hagi, fragen wir uns. Unsere Erklärung: Weltoffene Samurais der ehemaligen Mori, Tosa und Satsuma Fürsten haben für den Kaiser die neue Meiji Regierung erkämpft und gebildet. Schade, hier müssten wir tagelang recherchieren, um die verworrene Geschichte Japans zu entschlüsseln. Wir belassen es bei den Besuchen der Häuser der Männer, die in diesem Viertel gelebt haben, bis sie nach Tokyo berufen wurden.

Bei einbrechender Dunkelheit stellen wir fest, dass wir bei unserem Streifzug kein einziges Restaurant gesehen haben. Also machen wir uns zunächst zu Fuß, dann per Auto auf die Suche und finden das Yakiniku Restaurant eines Fleischgroßhändlers. Ohne Anmeldung, keine Chance. Waaas, wir haben doch kaum Menschen gesehen? Die sitzen an gasbetriebenen Korean Barbecues. Letztendlich lassen sie uns dann doch noch in der zweiten Etage, wo wir auf dem Boden hocken müssen, einen leeren Tisch zukommen. Die Bestellung läuft über iPads, die Bedienung ist superschnell und das gelieferte Fleisch ist von hervorragender Qualität – ihr Hagi Spezial Wagyu ‚genuine Japanese breed‘. So hat jede Gegend ihr eigens Wagyu und versucht besser, als das Wagyu aus der Nachbarprovinz zu sein.

Der Schlaf in diesem alten Haus – oder was vom alten Haus nach der Total-Restaurierung übriggeblieben ist – ist tief, rundum ist eine ungewohnte Stille.