Das Allerheiligste des japanischen Shinto, der Ise-jingu Shrine. Wir waren ergriffen von der Schlichtheit, der Schönheit und den ungeheuren Ausmassen dieser Anlage.
Das Gelände des Ise-Jingu soll, so wird es in manchen Zeitungen beschrieben, eine Ausdehnung in der Grössenordung von Paris haben.

Wir hatten grosses Glück gehabt. Rechtzeitig konnten wir den Ryokan Ikyu buchen, von dem aus wir zu Fuß innerhalb einer halben Stunde den Haupt- und Inneren Shrine (Naiku) erreichen konnten. Der Ryokan ist mit einem frühen Morgen Frühstück auf „Pilger“ eingerichtet, die schon zur ersten Toröffnung um 5:30 am Naiku sein wollen. Ansonsten herrscht später am Tag Chaos auf den Parkplätzen, zu viele Autos, zu wenige Parkmöglichkeiten in der Nähe des Zugangs.

Neben dem Naiku, in dem die Sonnengöttin Amaterasu Omikami „enshrined“ ist, könnten wir auf dem riesigen Gelände – wir denken immer an die Größenordnung von Paris – über 120 weitere, meist kleinere Shrine besuchen. Jeder Shrine ist einem der  vielen, jedem Japaner bekannten, japanischen Shinto-Göttern geweiht. Amaterasu Omikami gilt in der japanschen Mytologie als die spirituelle Gründerin des vor mehr als 2000 Jahren gegründeten japanischen Kaiserhauses. Eine Pilgerreise zum Ise-jingu ist aus diesem Grunde für jeden Japaner eigentlich eine heilige Pflicht.

Da das offizielle Ritual vorsieht zuerst den Äusseren Shrine (Geku) zu besuchen, haben wir uns an diese Regel gehalten. Schon am Nachmittag unserer Ankunft besuchten wir den etwa 5 km entfernten Geku. In seinen Ausmassen ähnlich gross wie der Innere Shrine (Naiku). Er ist der Göttin Toyouke geweiht, der Göttin für den in Japan so lebenswichtigen Reisanbau. Im Geku soll ausserdem eine der drei japanischen Throninsignien, ein göttlicher Spiegel, verwahrt werden. map_geku_en

Was uns als erstes auffiel. Direkt neben dem Shrine, gab es ein gleich grosses Areal, nur von grösseren, meist hellen, fausgrossen Kieselsteinen bedeckt. Fast in der Mitte eine kleine Holzhütte, im Aussehen wie eine Hundehütte, obwohl bei einer solch heligen Stätte dieser Vergleich bestimmt nicht angebracht ist. Darunter befindet sich der Grundstein, hier besser das Grundholz für den nächsten Shrine Bau. Der gesamte Bereich des Shrines und des leeren Areals wurden umstanden von alten, hohen, gerade gewachsenen japanischen Zedernbäumen, deren Baumnstämme wir teileweise zu zweit nicht umfassen können. Auf dem freien Gelände neben dem Shrine, etwa so gross wie ein Fussballfeld, stand bis vor drei Jahren der Shrine mit seinen diversen Gebäuden, gleich in Abmessung, Architektur und Baumaterialien. Alle 20 Jahre werden sämtliche Gebäude des Ise-Jingu abgebaut und zerlegt, die Bauteile an andere japanische Shinto Shrine im Land verteilt um danach in den gleichen Abmessungen direkt nebenan komplett wieder neu gebaut zu werden. Die Kaiserin Jito hatte dies im 7. Jahrhundert verfügt, um die alten, bewährten Techniken und die Handwerkskunst in die nächsten Generationen weiterzutragen und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das gilt nicht nur für die Bauwerke selbst, sondern auch für die Bekleidung der Shinto Priester, für das verwendete Geschirr, alles was im Shrine verwendet und gebraucht wird. Man möchte aus westlich, effizienter Sicht meinen es handele sich um eine riesige Verschwendung. Bei näherer Betrachtung handelt es sich jedoch um ein grossartiges, bewundernswert weitsichtiges Unterstützungprogramm verbunden mit der Weitergabe historischer Handwerkskusnst von Generation zu Generation. Dazu kommt noch, dass die Mitwirkung an diesem „Neubau Projekt“ als heilige Handlung angesehen wird. Das Zedernholz für den Neubau kommt aus den eigenen Ise-jingu Wäldern, manchmal werden auch gerade gewachsene Stämme aus den umliegenden Präfekturen verwendet.

Sowohl der Geku wie auch der Naiku sind eine Ansammlung von architektonischer Schlichtheit in Design und Materiaien. Zwar kann man diese ineinander geschachtelten Gebäudeteile, insbesondere die herrlichen Dächer mit den darüber gekreuzten Balken sehen, kann aber nicht direkt zu ihnen gelangen. Das Areal, ist umrundet von verschiedenen Sichtwänden, Einlasstoren und einem Nebenzugang für Gläubige, die gegen eine Spende, von einem Shinto Priester vor das Eingangstor geführt werden, das direkt vor den Behausungen der Götter liegt. Niemand kann in das Innerste schauen. Das erste Tor am Eingang ist mit einem geheimnisvollen weissen, zweigeteilten Tuch verhängt, dass im Wind weht und hin und wieder den Blick auf das nächste Tor vor den eigentlichen Gebäuden freigibt. Etwas Feierliches überkommt den Betrachter dieser schlichten Schönheit.

Uns sprach ein uniformierter Wärter an, fragte uns ob wir Fragen hätten. Wie kann man bei soviel Natur, der Schlichtheit der Gebäude und der mystisch wirkenden Abschirmung des Heilgtums Fragen haben? Überwältigt vom Zusammenspiel von Natur und Bauwerken, vom Wissen um die immer wiederkehrende Neuererrichtung der Haupt- und seiner vielen Nebenshrine, machen den Besucher ergriffen. Der Wärter kennt wohl diese Gefühle des Betrachters, er wollte, dass wir die dicken Holzsäulen des Eingangstores auch von der Rückseite befühlen. Glattheit, entstanden von so vielen berührenden Händen der Besucher. Also nicht nur sehen, auch fühlen. Und hören, wie der Wind das weisse Tuch zum Schwingen bringt, wie die Vögel zwitschern und die hohen, jahrhunderte alten Kiefern rauschen und auch zwischendurch mal knarzende Geräusche von sich geben. Einfach die Nähe zur Sonnengöttin Amaterasu spüren, sich dem Zusammenspiel von Natur, der Schlichtheit der Architektur und der sie verbindenden Mystik hingeben. Eine eigenartige, heilige Stimmung, ein Gefühl der Demut und Dankbarkeit, der Meditation. Schwer zu beschreiben.

Dann machte uns der Wärter darauf aufmerksam, dass jeden Morgen, gegen 5:00 bis 5:30 ein Priester das Tor des Naiku öffnet und dort dann den weißen Vorhang befestigen würde. Wir sollten uns diese tägliche, nur wenige Minuten dauernde Zeremonie nicht entgehen lassen.

Teil 2 folgt in Kürze ….