Grüße zum Winterbeginn
diesmal aus dem Daisen-in Temple in Kyoto

Der Daisen-in, ein Zen-buddhistischer Tempel im Daitoku-ji Tempelbezirk in Kyoto, fällt dem Besucher direkt ins Auge. Erbaut zwischen 1509 und 1513 zählt er heute zu den bedeutendsten Zen Tempeln in Kyoto.

shoes off_1Keiner der 26 Tempel in diesem von herbstlich gefärbten Bäumen
und ockerfarbenen Tempelmauern durchzogenen Areal fordert schon vor seinem imposanten Eingangstor – u.a. auch in handgeschriebenem Englisch – dazu auf beim Eintreten die Schuhe auszuziehen. Da geht fast unter, dass es im Daisen-in einen einzigartigen Zen-Steingarten sowie jahrhundertealte Gemälde auf den Schiebetüren zu sehen gibt.
Und, dass hier, was niemandem so bewusst ist, der Tokonoma seinen Ursprung hatte. Eine Wandnische, die auch heute noch in keinem japanischen Haus fehlen darf. In diese Nische wird eine der Jahreszeit angepasste Kalligraphie oder ein Rollbild gehängt, oder ein Blumengesteck gestellt.

Als wir mit dem Osho-san, dem Abt des Daisen-in, Soen Ozeki, sprachen, wurde uns klar warum gerade sein Tempel so eine anziehende Ausstrahlung auf seine Besucher hat. Mit seinen 83 Jahren verkörpert er die vitale Attraktivität des Daisen-in. Mit seiner festen, tiefen Stimme und seiner ansteckenden Fröhlichkeit hatte er uns sofort in sein Energiefeld gezogen. Wir saßen zusammen in dem kleinen Raum direkt hinter der Eingangskasse auf dem Boden, hier erkläre er uns seine Sicht auf unsere Frage nach dem Shoganai der Japaner:

„Eigentlich sollte der Mensch nicht so einfach Shoganai denken oder aussprechen, denn es könnte zu schnell Hoffnungslosigkeit oder Aufgabe ausdrücken. Was es aber unter keinen Umständen ist.

Unser Leben haben wir hier bekommen und sollten es so annehmen, alle Umstände so zu akzeptieren wie sich ergeben. Und wenn sie nicht gut sind, müssen wir sie ertragen. Die Wahrheit über uns herauszufinden, Klarheit zu erreichen, das ist die Aufgabe des Menschen. Dabei ist wichtig uns ständig mitzuteilen, nicht nur durch Sprache, denn die Wahrheit verändert sich ständig.“

IMG_7709_1Dann erzählte er uns als Beispiel die Geschichte von Hisako Nakamura. „Ein Mädchen, das in ihrem dritten Lebensjahr durch Erfrierungen an Armen und Füßen, damals nur durch Amputation ohne Narkosemittel zu behandeln, zunächst ihre beiden Arme, dann auch ihre Füße verlor. Sie wurde dadurch zum „Daruma-Girl“.
https://de.wikipedia.org/wiki/Daruma

Diesen Amputationen folgte ein 14 jähriger Kampf gegen die unmenschlich großen Schmerzen gerade in den kalten japanischen Wintern, aber auch gegen die vielen Verunglimpfungen aus ihrer Umgebung.

Nachdem ihr Vater starb als sie gerade sieben Jahre alt war, stellte sich die Mutter immer wieder die Fragen: Was wird aus meinem Kind, wenn auch ich eines Tages sterbe? Wie kann Hisako einen Kimono nähen? (Das war früher bei armen Leuten so, sie mussten sich die Bekleidung selbst nähen). Wie kann sie dazu einen Faden in ein Nadelöhr einfädeln? Wie kann Hisako ohne Hände essen? Wie kann sie ohne Füße zur Toilette gehen? Das alles müsste Hisako eines Tages alleine schaffen können.

Von diesem Tag an veränderte die Mutter ihre bisherige allumfassende, aufopfernde, liebevolle Betreuung von Hisako. Sie ließ Hisako auch unter größten Schmerzen alles selbst erledigen und trainierte sie zB. die Essstäbchen selbst zu halten, indem sie sich diese in die Verbände an den verbliebenen Armstummeln band. Ein Jahr lang achtete die Mutter streng auf größte Disziplin. Sie forderte und förderte sie bis Hisako es auch tatsächlich schaffte sich selbst zu versorgen.

Daraus lernte Hisako eine bis dahin ungeahnte Willenskraft zu entwickeln. Sie brachte es fertig – ohne Hände – einen Kimono für eine Puppe ihrer Freundin zu nähen. Dazu nahm sie anstelle ihrer Hände unter größten Schmerzen ihre Zähne, ihre Zunge und ihre Lippen zu Hilfe.

Die Freundin zeigte diese Puppe mit großer Freude über das gelungene Werk ihrer Mutter. Die allerdings fand das Werk unappetitlich, weil es mit der Spucke von Hisako verunreinigt war und warf die Puppe mitsamt dem Kimono in den nahe gelegenen Fluss.

Wie hat Hisako darauf reagiert? Sie hatte sich ohne Lehrer alles selbst beigebracht und unter größtem, ja unmenschlichem Aufwand, etwas Unglaubliches geschafft. Normalerweise müsste sie sich geärgert haben.

Sie stand eigentlich ohne ihre Arme und Füße und ohne die Betreuung ihrer Mutter vor dem Nichts. Vergleichbar mit den Menschen nach dem großen Erdbeben und dem Tsunami in Tohoku am 11. März 2011, die auch vor dem Nichts standen, ohne Haus, Arbeit und Einkommen. Solche Menschen stellen sich ständig die Frage: Was kann ich unter diesen Umständen jetzt tun? Wie kann ich mein dringendstes Problem lösen? Eine Antwort auf diese Fragen beschäftigten Hisako genauso wie die Menschen in Tohoku, ohne jede kurzfristige Lösung.

In solchen Momenten setzt der Überlebenswille des Menschen ein.  Deshalb war die Antwort von Hisako auf die böse Tat der Mutter der Freundin eindeutig: Dann werde ich eben das nächste Mal einen Kimono ohne Spucke nähen.

Mit 15 Jahren gelang es ihr tatsächlich durch ihre Willenskraft und Disziplin ganz normale Kimonos zu nähen – auch ohne Hände. Sie hatte später geheiratet und zwei Kinder geboren. Sie führte ein fast normales Leben.

Bei ihrem siebzisten Geburtstag  antwortete sie auf die Frage, wie sie das Unmögliche geschafft hätte: Ohne einen Traum, ohne Hoffnung hätte ich keine Zukunft gehabt. Was sollte ich machen? Hoffnungslosigkeit gibt es nicht. Ich musste einfach das tun was ich gemacht habe.“

Später erklärte uns Soen Ozeki noch – da hatte er sich schon sein blaues „Arbeitsgewand“ angezogen –  die Lehre aus dieser Geschichte:

„Im Leben einen Traum zu haben und dabei positiv an die Erfüllung zu denken ist sehr wichtig. Denkt dabei an Hisako Nakamura, das Daruma-Girl. Ihr Körper wurde zu Ihrem Lehrmeister und hat sie zu dem gemacht, was sie mit Siebzig darstellte, Ihre Behinderung gehörte zu ihrem Leben und gerade diese Behinderung hat sie so stark gemacht.“

Damit entließ er uns in den Steingarten seines Tempels. Davon berichten wir beim nächsten Mal.

Unsere Interpretation auch aus dieser Geschichte – Shoganai:
Akzeptiere die Wahrheit, werde Dir klar über die Umstände wie sie sind.
Bewahre Ruhe und überlege, was Du tun kannst.
Habe Hoffnungen und Träume.
Schau positiv in die Zukunft,
Realisiere deine Träume mit großer Disziplin

Der Abt Soen Ozeki hat uns mit der verkürzten Geschichte von Hisako Nakamura darin bestärkt – Shoganai heißt auch:

Never give up.
No excuse.
Try again.
Take the challenge and
be prepared.

Wer die ganze Geschichte von Hisako Nakamura nachlesen möchte:
http://www.nakamura-hisako.co.jp/english/

Damit wünschen wir Euch einen wunderbaren Beginn des Winters, auch wenn die augenblicklichen Temperaturen in Japan eher auf einen auslaufenden Sommer hinweisen. Entwickelt Träume und verwirklicht sie.