„Kaze no Denwa“ oder wie das Telefon ohne Anschluss nach dem 11. März 2011 Stimmungen, Gedanken, Gefühle und den Kontakt zu ihren vermissten und verlorenen Angehörigen über den Wind übertragen hat.

Im April diesen Jahres hatten wir bereits über einen Film „Kase no Denwa“ im japanischen Fernsehen berichtet. In dem Film ging es darum Gespräche in der Telefonzelle zu zeigen, die Menschen mit Angehörigen führten, die seit dem Tsunami vermisst wurden. Ohne Lebenszeichen, ohne Verabschiedung einfach aus der Welt geschieden. Hinterlassen wurden trauernde Familienmitglieder, die den Kontakt zu den verstorbenen und Vermissten suchen.

Das Telefon war nicht angeschlossen, die Telefonzelle diente lediglich dazu das ganz intime Gespräch mit den Vermissten zu führen, eine Möglichkeit mit dem Verlust, auch noch 5 Jahre danach, klar zu kommen.

Im Film wurden aus geziemter Entfernung, allerdings mit Mikrofon, trauernde Menschen gezeigt, die ihren Ehepartner, Eltern oder Großeltern, ihre Kinder oder Enkelkinder, Geschwister, Freunde und Schulkameraden im Tsunami des 11. März 2011 verloren haben und deren Körper bis heute nicht wiedergefunden werden konnten.

img_1673_1So näherte sich der Telefonbox im Film eine ältere Dame, öffnete zögernd die Türe, hob den Telefonhörer auf, wählte eine Nummer. Zunächst schwieg sie. Ganz von ihrer Trauer eingefangen begann sie dann ihren vermissten Mann zu fragen, wo er den sei, warum er sich nicht melden würde. Sie berichtete ihm, dass die Kinder wohlauf seien und sie ihn alle sehr vermissten. Der Rest des Gesprächs ging dann in Tränen und Schluchzen unter. Vorsichtig, als ob sie das Gespräch nicht abreißen lassen wollte legte sie den Hörer wieder auf, öffnete die Türe und verschloss sie ganz behutsam mit dem Riegel von außen. Anschließend stelle sie sich den TV Reportern zu einem kurzen Interview. Die Tränen waren in der Zwischenzeit schon versiegt, die Dame berichtete wie sehr sie ihren Mann, den Vater ihrer Kinder vermissen würde und immer noch seinen Rat benötige.

Ein Mann mittleren Alters wurde gezeigt, der seine Frau verloren hatte und jetzt alleine, ohne weitere Verwandte auf der Welt ist. Er stelle im anschließenden Interview die Frage, ob es sich für ihn noch lohne weiterzuleben. Viele der später interviewten Personen äußerten nach ihren Telefongesprächen aber auch eine gewisse Erleichterung, dass sie auf diesem Wege zu ihren Angehörigen sprechen konnten und nur auf ein einziges Wort als Antwort warten würden.

Als Zuschauer des Films schwankten wir damals zwischen Neugier und totaler Ablehnung die berührenden, traurigen und sehr intimen Gefühle dieser Menschen zu belauschen und sie hinterher noch zu interviewen.

Ein Junge von 15 Jahren fuhr einen weiten Weg von Hachinohe vier Stunden lang mit dem Bus um in der Telefonbox zu seinem Vater zu sprechen. Danach wurde er zu Hause im Kreise seiner Familie gezeigt. Mutter, ein jüngerer Bruder 8 Jahre alt, und seine etwas jüngere Schwester. Die Mutter berichtete wie der Vater noch aus seinem LKW am 11. März 2011 bei ihr angerufen hätte, dass er einen Einsatz für eine Fahrt nach Onagawa angenommen habe, dann aber nach dem Tsunami der Kontakt abgebrochen sei. Seitdem haben sie von dem Vater nichts mehr gehört. Die Mutter hält die Familie als Versicherungsverkäuferin, eine in Japan durchaus übliche Tätigkeit für ungelernte Hausfrauen. Die Schwester hatte sich seit dem Zeitpunkt an dem der Vater vermisst wurde zurückgezogen, sie sprach über den Verlust des Vaters weder mit der Mutter noch mit ihren Brüdern. Der 15 jährige Bruder empfahl dann seiner Mutter und den Geschwistern doch über das Telefon mit den Vater in Kontakt zu treten. Begleitet vom TV Team fuhren alle zusammen daraufhin nach Otsuchi. Die Mutter sprach zuerst mit dem Vater, dann gingen der jüngere Bruder und die Schwester in die Box. Es dauert eine Weile bis sie überhaupt sprechen konnten. Ein tränenreiches Gespräch mit dem vermissten Vater. Anschließend, auch unter Tränen sprachen die Geschwister untereinander über ihren Versuch mit dem Vater zu telefonieren. Die Schwester, so hatten wir als Betrachter den Eindruck, war danach gelöster. Die Familie hatte sich verabschieden können, sie war nach dem Telefongespräch noch enger zusammengewachsen. Der jetzt 15 jährige Sohn scheint dabei die Stelle des Vaters in der kleinen Familie eingenommen zu haben.

Ein versöhnender Abschluss des Films. Dennoch, der Trauer der Menschen so nah sein zu dürfen hat uns auch für eine Weile danach sprachlos gemacht.

img_2072_1Spontan beschlossen wir Herrn Sasaki und die „Kaze no Denwa“ Box in Ohsutchi aufzusuchen. Wir wollten seine Bereitschaft diese Telefonzelle zur Verfügung zu stellen und seine damit verbundenen Gefühle direkt erleben.

Die Verabredung gestaltete sich im April zunächst schwierig. Erst über verschiedene Blogs konnten wir seine Email und Telefonnummer in Erfahrung bringen. In unserer Email mit der Bitte um ein Gespräch mit ihm in Ohsutchi hatten wir ihm u.a. erklärt welche Aktivitäten wir nach dem 11. März 2011 sowohl in Deutschland als auch in Japan zur Linderung der ersten Nöte unternommen hatten. Schon zwei Tage später erhielten wir seine Zusage mit einem konkreten Besuchstermin Mitte April 2016 mit seinen Worten: „Menschen, die aufgrund eines TV Films extra aus Yokohama kommen möchten um mit mir zu sprechen, müssen wohl sehr gefühlvolle Menschen sein“.

Wir mussten unsere Reise im April abbrechen, versprachen Herrn Sasaki aber zum nächst möglichen Termin wieder zu ihm nach Ohsutchi zu kommen.

 Im Oktober war es dann soweit. Wir konnten unsere Reise vom April des Jahres fortsetzen. Wir hatten einen erneuten Termin mit Herrn Sasaki gemacht und waren gespannt, was uns erwartete.

img_2064_1Die Telefonzelle liegt oberhalb des ehemaligen Ortes Ohsutchi, 20 km entfernt vom Ryokan Horai-kan. Unsere Anreise nach Navi gestaltete sich mehr als kompliziert. Die Straßen, die uns angezeigt wurden, gab es nicht mehr. Bei der Anfahrt konnten wir hinter den Bergen sehen woher die faustgroßen Steine kamen, die von den LKWs transportiert wurden. Neue Täler wurden geschaffen, in denen Steinbrecher das Felsgestein in handlichen Größen zermalmen. Unendlicher Staub überall. Und immer wieder die behelmten, uniformierten Einweiser mit ihren von der sengenden Sonne und der Nähe des Meeres braun gebrannten Gesichtern. Ohne sie hätten wir unser Ziel nicht erreicht. Wenn wir dachten im Niemandsland zu sein, uns fragten, ob wir auf unbefestigten Wegen fahren dürfen, wenn wir wieder einmal LKWs ausweichen oder sie an engen Stellen vorbeilassen mussten, dann waren diese Einweiser unsere Rettung uns den richtigen Weg zu weisen. Die alte Bebauung gab es nicht mehr, auch nicht die bisherigen, im Navi angezeigten Strassen.
Neue Brückenfundamente versperrten uns plötzlich den Weg.

img_2067_1Am Fuß der Anhöhe über Ohsutchi hatten am 11. März 2011 die Wassermassen, ausgelöst vom Erdbeben der Stärke 9.0 mit dem anschließenden Tsunami, dramatische Verwüstungen in der kleinen Stadt angerichtet, die neben dem materiellen Wert 820 Menschenleben gefordert haben. Noch heute werden 420 Menschen vermisst.

Wir waren auf dem richtigen Weg, es ging noch einen Berghang hinauf, dann war alles wieder normal, unser Navi zeigte uns den Weg. Hier, 100 Meter über der ehemaligen Stadt Ohsutchi war alles so wie früher. Schnell fanden wir das Schild „Bell-Gardia“, parkten unseren Prius und sahen sie sofort. Inmitten eines gepflegten, herbstlichen Gartens stand die weiß Telefonbox, etwas kleiner als wir sie uns vorgestellt hatten.

Wir hatten verabredet, dass Frank die Box zunächst einmal alleine aufsuchen würde, um selbst einen Eindruck zu bekommen, was bisher bereits mehr 10.000 Menschen dort erlebt hatten. Erst danach wollten wir mit dem Besitzer der Gartenanlage „Bell Gardia“, Herrn Sasaki, unser Gespräch führen.

img_1677_1Die Türe war mit einer Vorghängeeinrichtung zugesperrt. Leicht angerostet, deshalb fiel es schwer die Türe zu öffnen. Drinnen stand das schwarze Telefon mit alter Wählscheibe und einem aufgerollten Kabel auf einem kleinen Board – ohne Anschluss. Daneben lag ein kleines Heft mit vielen persönlichen Notizen, an einer Seite der Telefonbox hing eine japanische Kalligrafie.

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Frank : „Ich wählte die Telefonnummer mit der Vorwahl für Deutschland meines kürzlich verstorbenen Bruders. Stille. Und dennoch war ich in diesem Moment meinem Bruder sehr nahe. Ich sprach mit ihm und hatte das Gefühl, dass ich ihn erreicht hätte….

In diesem stillen Augenblick verstand ich die Anrufe der vielen Hinterbliebenen, die ihre Angehörigen im Tsunami verloren oder vermisst hatten, verstand ihre Befreiung von der Ungewissheit nach diesem Anruf aus der Telefonzelle des Herrn Sasaki aus Ohsutchi“.

Dann trafen wir Herrn Sasaki vor seinem Haus. Ein freundlicher Mann im gleichen Alter wie wir. Er hatte früher bei Nippon Steel gearbeitet, allerdings mit 51 Jahren dort aufgehört, weil er nur noch das tun wollte, was ihm gefiel, anderen Menschen insbesondere Kindern zu dienen.

Sicherlich hätten seine jetzt erwachsenen Kinder und Arbeitskollegen ihn manchmal für seltsam gehalten, aber er bleibt dabei, verwirklicht mit „Bell-Gardia“ seinen Traum.

“Ideen, was man gerne tun möchte haben viele“, sagte er uns, „aber sie auch in die Tat umzusetzen nur wenige. Von meinen vielen Besuchern sagen fast alle, ich möchte auch nur das tun, was ich gerne tun möchte. Aber bisher hat nur ein Einziger diesen Entschluss gefasst, umgesetzt und auch durchgehalten“.

img_2075_1Herr Sasaki möchte ein einfaches Leben führen, so macht er alles im „Bell-Gardia“ alleine. Auf mehr als 2000 Tsubo (6600m2) hat er unter anderem ein herrliches Steinhaus gebaut, in dem er den Kindern aus Ohsutchi eine Bücherei eingerichtet hat. Sie können dort hinkommen und lesen, denn nach dem Tsunami, gibt es im früheren Ort Ohsutchi weder eine Bücherei noch einen Buchladen. Etwas weiter oberhalb seines Hauses, fast im Wald hat er ein großes Baumhaus in einen dicken Baum gebaut. Hier können Kinder auch übernachten, abschalten vom immer noch sehr beschwerlichen Alltag, können sie loslassen, einfach Kinder sein.

Zurzeit ist er dabei mit Hilfe eines Minibaggers einen Konzertplatz zu planieren, so dass dort Konzerte mit und für die Kinder aufgeführt werden können.

Wir waren in unserem Gespräch und Rundgang durch seinen „Bell-Gardia“ ganz von der Telefonbox „Kaze no Denwa“ abgekommen, die er im Jahr 2010 zusammen mit seinem Cousin eigentlich als Gartendekoration dort hingestellt hatte. Nach dem Tod seines Cousins konnte er von dort aus mit ihm Kontakt aufnehmen. Dazu hatte er das schwarze Telefon mit einer Wählscheibe installiert. Seine Mitteilungen und Gedanken sollten durch den hier stetig wehenden Wind an seinen Cousin übermittelt werden. Die Kalligrafie in der Telefonzelle stammt von seinem Cousin, so konnte er ihm nahe sein.

Nach dem Tsunami wurde sie von Sasaki-san den Bürgern zur Verfügung gestellt.

Durch den Film im NHK TV wurden Journalisten und ausländische TV Stationen auf „Kaze no Denwa“ aufmerksam. Immer wieder kommen deshalb Journalisten aus aller Welt dorthin um im „Bell-Gardia“ einen Film zu drehen in dem möglichst tränenerzeugende Einrücke bei ihren Zuschauern erweckt werden sollen, was so gar nicht im Sinne von Sasaki-san ist..

Da er in unserem sehr lebhaften Gespräch mehrfach Kenji Miyazawa erwähnte, erzählten wir ihm von unserem Besuch des Museums, und dass uns sein Gedicht Ame ni mo makezu schon immer beeindruckt hätte. Im weiteren Verlauf verstanden wir, dass Herr Sasaki das Leben führte, das Kenji Miyazawa in seinem berühmten Gedicht beschrieben hatte – Dies ist der Mensch, der ich sein möchte. Und Sasaki-san hat es umgesetzt.

Mit unserer Erkenntnis entwickelte sich eine philosophische Diskussion über zwei Stunden, in der Herr Sasaki uns in seine wahren Absichten einweihte, dass die Telefonbox eigentlich nicht der Hauptgrund in seinem „Bell-Gardia“ sei, sondern, dass sich hier in seinem Garten Menschen, insbesondere die Kinder wohlfühlen sollen und lernen welches Leben sie in Zukunft führen möchten. Steinhaus und Baumhaus bekamen damit eine neue Bedeutung, sie waren tatsächlich die Verwirklichung von Miyazawas Lehren. Er berichtete uns, dass er den Kenji Miyazawa Verein gegründet hätte, um die Lehren von Miyazawa weiterzutragen.

Später fanden wir an einer Brücke ein Monument, das er hat errichten lassen mit einem Gedicht von Kenji Miyazawa. Es sollen noch mehrere solcher Monumente folgen, die sich zu einer Art „Romantische Straße“ entwickeln soll – eine „Kenji Miyazawa Straße“. Wer dann von Monument zu Monument pilgert kann Miyazawas Weisheiten lesen, sie weitergeben. Daraus kann sich eine Bewegung für eine neue, bessere Welt entwickeln. Herr Sasaki ist der festen Überzeugung, dass es manchmal nur eines Wortes, eines Satzes, eines Buches, eines besonderen Menschen oder eines anderen kleinen Anstoßes bedürfe um die Welt zu verändern. Dazu möchte er mit der Verbreitung der Philosophie von Kenji Miyazawa und seinem eigenen Handeln und Tun beitragen. Begeistert war er von unserer Auslegung von Shoganai, „denn alles beginnt damit die Realität zu akzeptieren, sie so anzuerkennen wie sie sich darstellt, Ruhe zu bewahren, um dann daraus etwas Neues erschaffen zu können“. Wenn wir heute, nachdem Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt worden ist, über diesen Satz nachdenken, dann hat Trump durch sein „We make America great again“ eine neue Bewegung geschaffen und wird damit die Welt verändern. Ob wir das gut finden oder nicht.

img_2065_1Wir waren gekommen um diese Telefonzelle zu sehen, die Geschichte dahinter zu verstehen, warum Menschen dorthin kommen, um über den Wind (Kaze no Denwa) mit ihren Angehörigen in Kontakt zu treten. Was wir fanden war ein Philosoph, der es nicht bei guten Worten und Absichten belässt, sondern selbst tätig wurde um die Welt zu verbessern. Ein starker, beeindruckender Mann, der daran arbeitet die Botschaft von Kenji Miyazawa in die Welt zu tragen:

 Wenn die Welt insgesamt nicht glücklich sein kann, dann kann auch der einzelne nicht glücklich sein, oder im Umkehrschluss niemand kann glücklich sein bis die ganze Welt glücklich ist.

 img_2080_1Sasaki-san stellte dazu die Verbindung zu Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ her, der dort gesagt hat, dass in jedem Mikrokosmos der ganze Makrokosmos liegt, und dass dieser nichts mehr als jener enthält.

Welche eine Überraschung in Ohsutchi, weit , weit weg vom gehetzten Tokyo!

Wir wurden in diesen beiden sehr intensiven Stunden zu Freunden. Gesprächsstoff bis heute, insbesondere bei der Verfolgung des US Wahlkampfes.